In der Gluthitze des Schlussverkaufs

Die Konsumentin 30, 50 oder sogar 70 Prozent: Immer im Hochsommer erschüttern wahre Rabattgewitter die Fußgängerzonen. Aber: Muss man da auch zuschlagen?
Ausgabe 30/2014
Illustration: Otto
Illustration: Otto

Neulich, beim Tretbootfahren auf einem vor Hitze schon stinkenden Großstadttümpel, sprach ich mit einem Freund über Kinder. Von dort kamen wir auf unsere eigene Kindheit. Und dann sehr schnell auf das Thema Albträume. Niemand kennt sich ja so gut damit aus wie Kinder, vermutlich, weil ihre noch jungen Seelen so viel Irrsinn in kürzester Zeit verarbeiten müssen – laufen, sprechen, zählen lernen und der ganze sonstige Erwachsenenquatsch: Horror!

Unser beider Kindheitsalbträume hatten mit Ohnmachtsgefühlen zu tun. Der Freund wurde von Monstern verfolgt, trat aber auf der Stelle, konnte nicht weglaufen. Bei mir waren es ausfallende Zähne: Wurde ich im Traum an die Schultafel gerufen, bröckelten sie mir aus dem Mund. Noch schlimmer war für mich nur die Realität – und zwar die Realität, die sich alljährlich zur zweiten Hälfte der großen Ferien anbahnte. Landauf, landab wurde der Albtraum mit drei potthässlichen Leuchtbuchstaben angekündigt: SSV. Sommerschlussverkauf.

Der Freund und ich gehören qua Geburtsjahrgang zu der West-Kohorte, die von Alt-68ern mal als „Konsumkids“ beschimpft wurde, oder, von Joschka Fischer, als verweichlicht-verwöhnte „Heiapopeia“-Jugend. Und tatsächlich: Wenn ich meinen sozioökonomischen Erinnerungsgenerator anwerfe, schleudert er mich in ein Einkaufszentrum. Das Rabattgesetz der alten Bundesrepublik war streng, Preisnachlässe bis zu70 Prozent waren dem Einzelhandel nur während genau festgelegter Zeiträume erlaubt – und das waren immer Wahnsinnswochen. Da wurde in Zehn- bis Zwölfstundenschichten alles zusammengekauft, was sich im Halbjahr zuvor als Bedarf ergeben hatte, Badesachen für die Kinder, Bettwäsche für die Eltern, festes Schuhwerk für alle.

Schon in den Wochen zuvor lag zu Hause eine große Ernsthaftigkeit in der Luft, die Mutter betrieb Kleiderschrank-Inventur und schrieb Listen, der Vater wurde still und stiller, seine Lippen schmaler, und mein Bruder und ich sahen mit einer Mischung aus Spannung und Sorge dem nahenden Samstag entgegen, an dem wir wieder zu viert durchs „Zentrum“ hetzen würden. Die Mutter mit dem Plan im Kopf vorneweg, der Bruder und ich fasziniert bis verängstigt hinterher, der Vater wortlos bis pampig hintendrein. Als gestaffelte Vier-Köpfe-Einheit boxten wir uns den Weg frei, schubsten andere Drei- bis Achtkopf-Einheiten weg von Umkleidekabinen, Sonderangebotsständern und Kundenklos. Ja, das war doch eigent-lich das Gefühl: GANZ DEUTSCHLAND kam zum verabredeten Termin im Einkaufsparadies zusammen. Das war noch ein Zusammenhalt damals ... ach!

Nie heulten allerdings irgendwo so viele Kinder wie im SSV, öfters ging auch mal eins verloren, im Gewühle. Die auf der Strecke gebliebenen Opfer wurden per Lautsprecher verlesen: „Die kleine Melanie wartet im Kundenzentrum auf ihre Eltern.“ Ja, das war eine der größten Ängste eines vier- bis elfjährigen westdeutschen Mittelschichtskindes: beim Schlussverkauf hängen zu bleiben, von den Eltern abgedrängt zu werden, weit zurückzufallen in die feindliche Menge der Fremden und jämmerlich zu ertrinken in einem Restpostenstrudel aus herabgesetzten Frotteewaren und Teppichvorlegern.

2001 wurde das Rabattgesetz ad acta gelegt. Es war das Ende für SSV und WSV. Jetzt ist immer irgendwo ein Sale, immer irgendwo eine Season. Die ganze Welt: ein einziges Preisvergleichs-portal, eine rund um die Uhr laufende Schnäppchenevaluationsmaschine. Keine Pause mehr – jetzt heißt es das ganze Jahr über: Wer heute nicht mehr zugreift, ist schon morgen selber schuld. Was als unerfülltes Versprechen bleibt: die großen, wirklich großen Ferien von alldem.

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Geschrieben von

Katja Kullmann

Stellvertretende Chefredakteurin

Katja Kullmann

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