Rein in die rauen Winde!

Debatte Kann man heute mit der Literatur noch den Kapitalismus angreifen? Wenn man sich für gewisse Dinge nicht zu schade ist: Ja
Ausgabe 17/2015

Zwei Nachrichten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu haben, prägten die vergangene Woche. Topmeldung eins: Erneut sind mehr als 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken, weil sie auf mörderisch überfüllten Booten versuchten, Europa zu erreichen. Topmeldung zwei: Günter Grass ist tot, einer der letzten Vertreter der Gattung Großschriftsteller, Weltendeuter, Gewissheitenverkäufer.

Während die Leichen noch aus dem Wasser gezogen wurden, trafen sich im Brecht-Haus in Berlin zwei Dutzend Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu einer Tagung mit dem Titel Richtige Literatur im Falschen? Soll oder muss Literatur heute Kapitalismuskritik betreiben, und falls ja: Wie? Diese Fragen wollten die Schreibenden erörtern, unter ihnen solche, die Preise und Bestsellererfolge sammeln, wie Kathrin Röggla und Ingo Schulze, und solche, die außerhalb der Disziplinen „große Pubilkumserfolge“ und „Feuilletonaufmacher“ operieren, wie die Lyrikerin Monika Rinck oder der Essayist und Autor Enno Stahl. Letzterer ist ein leidenschaftlicher Ätzer gegen „sogenannte Popliteratur“ und hat das Symposium initiiert, gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Ingar Solty.

Das Schreiben ist eine einsame Tätigkeit. Im Brecht-Haus zeigte sich: Ungeduld, Unzufrieden- und Unsicherheit beschäftigen zumindest die dort Anwesenden. Wie kann man dem Kapitalismus beikommen, wenn er doch alles sogleich zu seinen Zwecken vereinnahmt? Muss ein Text von Geld handeln? Wie viel Agitation wäre gut und richtig? Ab wann wird es „Tendenzliteratur“? Hiesige Schreibende wissen ja, dass sie eines der privilegiertesten Reservate dieser royalblauen Welt bewohnen. Und dass sie mit dem Schreiben so gut wie nichts ausrichten können gegen Ungerechtigkeit und Gewalt, Entfremdung, Ausbeutung und Terror. Oder doch? Vielleicht ein bisschen?

Von einer „Illusion der eigenen Wichtigkeit“ sprach die Lyrikerin und Prosaschriftstellerin Ann Cotten gleich in der ersten Diskussionsrunde. Die anderen stimmten ihr zu. Niemand schien sich akut als The next Grass bewerben zu wollen. So gab es viele interessante Fragen – aber wenige Antworten. Ein „Manifest“ wurde am Ende auch nicht verfasst. Die zwei Tage waren gefüllt mit Zweifeln, Selbst-, Fremd- und Gesamtzweifeln. Womöglich ist genau diese Wetterlage kennzeichnend für die Gegenwart, wie der Kapitalismus sie formt. Womöglich ist das große Zweifeln auch eine Chance für die Literatur.

Stoff aus der Spiegelglaszone

Ertrinkende oder verbrennende Menschen sind die erschütterndsten Eindrücke, die der Kapitalismus der Gegenwart aufprägt. Einige Entsetzensstufen darunter hat er noch mehr auf Lager: Flaschensammler in Spiegelglaslandschaften; die Freude der Oberschichten an hochglänzender Ruinenpornografie; Streiks, Protestmassen; junge Menschen mit europäischen Pässen, die lieber mit dem IS morden gehen, statt es bei Castings zu versuchen; Armenspeisungen am Rande der Super-Sale-Zonen, und all das geschmückt mit neunationalen Fahnen in allen Farben. Es ist eine reiche Zeit, was Motive, Stoffe, Stränge, Plots angeht, an Komplexität besteht kein Mangel, und der Hunger auf Analyseangbote ist groß.

Viele Texte verfasst der Kapitalismus aber quasi selbsttätig – das Twitter-Geplapper und die Burn-out-Literatur, geleakte Dokumente, aufreizend inszenierte Alltagsprekarität im Reality TV und schließlich: die große Datenhalde. Über den „Tod des Schreibens“ dachte kürzlich der britische Autor Tom McCarthy im Guardian nach: „Kaum ein Aspekt unseres Lebens, der nicht elektronisch dokumentiert ist. Heute ist es die Software, die unsere Erfahrungen, unsere Werte und Ansichten kartografiert.“ Es wimmelt nur so von halb angefangenen, miteinander verschränkten Narrativen.

Damit verändert sich nicht nur die Rolle der Lesenden, sondern auch die der Schreibenden. Die Gruppe 47, die Gruppe 61, Brecht, Koeppen, Benjamin, Lukacs, Enzensberger, Hacks: Das waren Generationen, die sich sicher zu sein schienen, dass sie recht hatten mit ihrem jeweiligen Blick auf die Welt. Auch weil sie homogene „Erfahrungsräume“ teilten, wie Kathrin Röggla bemerkte. Worauf Raul Zelik einwarf: „Aber wir wissen doch, was läuft! Nichtwissen als Argument gilt nicht!“ Emile Zolas große Geste – „J’accuse“ – ploppte auf, Juli Zehs Name fiel. Immerhin versuche sie eine spezielle Strategie, sagten die einen: Zeh nutze ihre Bekannheit als Schriftstellerin ganz gezielt, um als Bürgerin für politische Inhalte zu werben. Die anderen verzogen skeptisch ihre Gesichter.

Die Vorstellung vom schreibenden Menschen als Wertautorität, Moralinstanz oder Antwortenlieferant beinhaltet ja nicht nur eine Anmaßung, sie dockt auch an ein romantisches Künstlerideal an. Vor allem wurzelt diese Schriftstellerverortung in einer bürgerlichen Gesellschaft, die nun langsam, aber sicher wegstirbt. Das führt zu feinsten Verschiebungen, auch, was die Produktionsbedingungen angeht. Lyrikerin Rinck stellte fest, dass bald jede Hochschule sich heute eine eigene Poetikvorlesung leiste. „Geht es da um Interesse an den Inhalten oder nur um Drittmittelverwertung?“ Kathrin Röggla wiederum sieht, dass die „Theaterliteratur“ zunehmend eine „Dienstleistungsfunktion“ für lokale Kulturlandschaften übernehme. „Wir Autoren sind Repräsentationsfiguren für den ganzen Zirkus“, sagte der österreichische Schriftsteller Stefan Schmitzer.

Das Schlagwort vom „Social Turn“ (siehe Freitag 50/2014) fiel auch nun im Brecht-Haus wieder, und die „Kessler-Debatte“ war kurz ein Thema. Ihr Kern: Die hiesige Gegenwartsliteratur sei so zahm und mutlos, weil die Absolventen der Schreibschulen in Hildesheim und Leipzig meist aus saturierten Verhältnissen stammten. Das notierte Florian Kessler, selbst ein Hildesheimer Schüler, vor einem Vierteljahr in einem Aufsatz in der Zeit.

Es ist eben bitter, aber auch wahr: Was man zum Schreiben braucht, ist ein gewisses Maß an Bildung, ein Sprachvermögen; außerdem geschützte Zeit, die, aus welchen Quellen auch immer, finanziert ist. Beides sind Ressourcen, über die Menschen aus unterprivilegierten Schichten selten verfügen. Um die Stimmen von Unterprivilegierten zu stärken, müssten Schriftsteller ihr Know-how mit ihnen teilen – etwa so wie die Autorin und Aktivistin Meredith Tax in den USA es tut. Sie gibt Schreibkurse für „gewöhliche Menschen aus der Arbeitswelt“, ganz im Sinne einer unterstützten Selbstermächtigung.

Wenn aber Menschen mit „saturiertem“ Hintergrund über Unterprivilegierte schreiben, besteht das Risiko der Sozialromantik oder des Vorführeffekts. Für Enno Stahl nutzen etwa Clemens Meyer und Thomas Melle Armut für ihre oft als „sozialkritisch“ gelobten Romane nur als Kulisse, „als Setting für einen an sich harmlosen Plot, so wie es auch im Tatort geschieht.“

Neue Helden statt alter Ängste

Einig waren die Schreibenden sich, dass die Nöte und dramen der bürgerlichen Mitte weitgehend auserzählt sind – dass die Literatur stagniert, wenn sie sich weiterhin darauf beschränkt, „ästhetische Seelsorge für Abstiegsängste“ (Stahl) zu liefern. Und tatsächlich bieten sich ja längst neue Heldinnen und Helden an. Wer sind die eigentlichen Akteure, die Agenten der Gegenwart? Zum einen sind es „die ganz oben“. Das sagenumwobene „eine Prozent“ ist die Terra incognita, auch wenn es Vorstöße zu ihrer Erschließung gibt, etwa in Rainald Goetz’ Johann Holtrop oder in den Sachbüchern von Julia Friedrich.

Die radikalste Form des Selbstunternehmertums findet sich bei Migranten beziehungsweise Flüchtlingen. „Sich neu erfinden“, „das Schicksal in die Hand nehmen“, „flexibel sein“: Niemand nimmt sich diese zeittypischen Befehle, zwangsläufig, so beherzt vor, wie die Millionen Menschen, die ihre Taschen packen und alles verlassen.

Und schließlich hat sich die Literatur auch denjenigen noch kaum zugewandt, die sich als Aktivisten ins Getriebe werfen und eine Wiederbelebung ziviler Proteste befördern – Proteste, die nicht zwangsläufig von einer, nun ja, Sympathie erweckenden Gesinnung getragen sind.

Fakten und Fiktion näher zusammenbringen, sie verschränken, schlug der Sozialwissenschaftler Solty schließlich vor. Das ist ein Ansatz, den Tagungsteilnehmer Thomas Meinecke ohnehin verfolgt, mit seinen (pop)theoretischen Quasiromanen. „Für mich ist es immer ein Experiment, ich stoße in mir unbekannte Gebiete vor und schreibe darüber, das schlägt sich dann auch in der Form nieder.“

Die radikalste Vokabel, die im Brecht-Haus fiel, stammt wiederum vom Politologen Solty: Statt die Gegenwart als Verlustgeschichte zu erzählen, könne die Literatur sich auch das Gegenteil vornehmen: „Wir können diese Zeit jetzt auch als début de siècle begreifen, als Phase, die neu entdeckt und beschrieben werden kann.“ Und das auch mit Formen wie Science-Ficiton, Satire, mit Dystopien und Utopien – strikt nach vorn gedacht.

Interessanterweise kam der Brite McCarthy kürzlich zu einer ähnlichen Überlegung – die ihn zu einem Plädoyer für das anthropologische Prinzip führte: „Ein Anthropologe ist für mich ein Schriftsteller ohne all den aufgeblasenen Bockmist (...) Du betrachtest die Welt und berichtest darüber. That’s it.“ Der New Journalism hat sich jenes Prinzips schon vor 30, 40 Jahren bedient. Aber jetzt wäre der Zeitpunkt, das Ganze noch mal ein paar Meter weiter zu entwickeln. Zwei Aspekte kamen bei all dem Rück- und Vorwärtsdenken im Brecht-Haus leider nicht zur Sprache.

Erstens: das populäre Schreiben. Genau jetzt könnte sein großer Moment kommen, genau jetzt könnte es nicht nur neu gedacht, sondern auch neu gemacht werden. Eine Literatur, die explizit den Kapitalismus angehen will, darf die Hinwendung zu auch einfacheren, letztlich verständlicheren Formen nicht ausklammern. Sie sollte sich nicht auf stilistische Virtuosität konzentrieren, sondern auf ihre Erkundungs- und ihre Übersetzungsqualität. Die literarische Reportage kann das leisten, der Dialog, das groteske Gedicht – der „nicht ganz so lange“ Text, der seine Agitationskraft auch dadurch erhält, dass er vielleicht einer anderen Leserschaft zugänglich ist, nicht nur der üblichen Literaturhauskundschaft

Zweitens: der Wirklichkeitsbezug. Es dürfte sinnvoll sein, der (halb)staatlichen Literaturförderung, der Stipendiumsökonomie den Rücken zu kehren. Sich den rauen Winden der „freien Marktwirtschaft“ auszusetzen, sich das Schreiben mit womöglich gänzlich ungeliebter Arbeit zu finanzieren, wie viele der größten Literaten des 20. Jahrhunderts es taten (von Kafka bis Fauser), würde Formfragen nach „Akzeleration und Intensität“ (Enno Stahl) vielleicht schnell beantworten. Literatur, die unter demselben Zeit- und Gelddruck entsteht, dem die meisten anderen Menschen unterliegen, läse sich womöglich heißer, schärfer, eindringlicher, gehetzter und angespannter, mithin viel gegenwärtiger als Werke, die aus der „Kulturproduktionsbürokratie“ (Jörg Fauser) gefüttert sind. Vor allem wäre diese Literatur eines: näher dran am Stoff.

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