Ruinenporno: Jetzt bröckeln die Malls

Die Konsumentin Nach den Fabriken verrotten in den USA nun auch die Einkaufszentren – und wir schauen fasziniert hin
Ausgabe 24/2014
Ruinenporno: Jetzt bröckeln die Malls

Anfangs war es nur ein Nischenhobby, eine verquere Leidenschaft von Achitekturfreaks mit melancholischen Neigungen. Inzwischen hat es breite Bevölkerungsschichten erfasst: ein voyeuristisches Interesse an verkommenen, verlassenen Gebäuden. Blogs, Flickr-Streams und Magazine zeigen entkernte Fabrikgebäude, zerfallene Wohnblocks, Hotelskelette im Gegenlicht. Wir – wenn es etwas wie ein Wir heute überhaupt gibt – schauen fasziniert hin, mit einem gewissen Grusel. Wir kennen ja die Statistiken zu den Bildern: Der sogenannte Strukturwandel schubst Millionen Menschen in einen prekären Erwerbswettbewerb und lässt Kommunen zu Shrinking Cities, Schrumpfstädten, zerknittern. Wo die Jobs fehlen, gehen die Gemeinden den Bach runter. Mit einem Instagram-Filter über der Linse oder auf Hochglanzpapier gedruckt, sieht das richtig, richtig gut aus.

Ein echter Hit in jenem Segment: Der Fotoband The Ruins of Detroit, der 2010 im Kunstbuchverlag Steidl erschien, mit Aufnahmen aus der heruntergekommenen US-Autometropole. Liebhaber blättern für die Originalausgabe des Buchs mittlerweile bis zu 400 Euro hin. Es macht sich ja auch sehr gut als Coffee-Table-Accessoire in Lofts und Design-Etagen. 400 Euro sind auch insofern eine beeindruckende Summe, als eine vierköpfige Familie aus einer Detroiter Arbeitslosendynastie davon wohl einen halben Monat lang leben könnte. „Ruinenporno“ nennt der Detroiter Journalist James D. Griffioen die Lust auf den ästhetisierten Niedergang. In einem Interview mit dem amerikanischen Vice-Magazin machte er klar, wie obszön es ist, wenn gebildete White-Collar-Menschen sich am Verfall von Working-Class-Welten erfreuen.

Aus klassenkämpferischer Perspektive gibt es zu alldem nun aber eine gute Nachricht: Jetzt bröckeln nämlich verstärkt auch die Einkaufszentren – die Orte, an denen die gebügelte Mittelschicht, hüben wie drüben, einen Großteil ihrer staatsbürgerlichen Pflicht zu erledigen pflegt(e), mit Sonderangebotsvergleichen, Cappuccinotrinken, Gute-Laune-Mitmach-Gewinnspielen und „Buy two, get one free“-Exzessen. Gut 1.500 voll überdachte Einkaufsparadiese gibt es US-weit. Bis zu 15 Prozent davon werden voraussichtlich noch in diesem Jahr dichtmachen, prognostizieren Ökonomiebeobachter.

Prompt sind verwaiste Malls das neue, nun ja, Trendmotiv jenseits des Atlantiks. Black Friday lautet der Titel eines Buchs des Fotografen Seph Lawless aus Cleveland, Ohio, einer Stadt, die wie Detroit zum Rust Belt gehört, zum amerikanischen Ruhrgebiet. Auf Lawless’ Fotos sind stillstehende Rolltreppen und zersplitterte Showroom-Fenster zu sehen. „Als Heranwachsender hing ich oft in Malls herum“, sagt er. „Ich erinnere mich an den Geruch von Zuckerwatte und Springbrunnengeplätscher. Das war Amerika.“

Auch die Betreiber der Internetseite deadmalls.com sammeln Fotos und Beschreibungen eingegangener Shoppingkomplexe. Ja, die Lust am Niedergang trifft nun auch die Angestelltenkohorte in den Solarplexus. Und das ist nicht überraschend. Zunächst verflüchtigten sich für viele die Erwerbsgrundlagen: Hunderttausende Amerikaner erklärten sich 2011, im Zuge der Occupy-Bewegung, zu den 99 Prozent, die trotz Vollzeitarbeit nicht über die Runden kommen. Nun schwindet auch ihr natürlicher Lebensraum.

Und wir kommen aus dem Staunen, dem Starren, dem Glotzen nicht heraus. Das Alte neigt sich seinem Ende zu – das Neue, was und wie auch immer das sein könnte, zeigt sich noch nicht. Es ist, als würden wir „zwischen zwei Zeiten“ leben – schrieb Ödön von Horváth in Der ewige Spießer. Das war allerdings in einer noch viel böseren Zeit, im Jahr 1930.

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Geschrieben von

Katja Kullmann

Stellvertretende Chefredakteurin

Katja Kullmann

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