Im Grunde ist Stefanie Mann eine Berühmtheit. Eine abstrakte Berühmtheit, eine Prominente ohne Namen. Wenn in einer Polit-Talkshow die Floskel „Leistung muss sich lohnen“ fällt, stehen die Chancen gut, dass jemand ruft: „Und was soll der Fensterputzer sagen? Oder die Altenpflegerin?“ Ja, beinahe täglich hat „die Pflegekraft“ ihren Auftritt. Als statistische Größe. Als politisches Argument. Als Sorgenfalte auf der Stirn eines Demoskopen. Gibt man im Netz das Schlagwort „Pflegenotstand“ ein, stößt man aktuell (Stand: 20. Mai) auf 5.140 Nachrichten.
„Ich verfolge diese Diskussionen nicht so, dazu habe ich gar keine Zeit“, sagt Stefanie Mann – die ihren wahren Namen lieber aus der Öffentlichkeit heraushält. Die Frau Müller hat mir schon wieder die Zähne geklaut! heißt das Buch, das die 27-Jährige gerade veröffentlicht hat (Heyne, 256 Seiten, 8,99 €, aufgezeichnet von Carina Heer). Ein Bericht aus dem Joballtag im Seniorenheim, ganz uneitel heruntergeschrieben, ohne großes Gejammer. Dafür mit Selbstbewusstsein. Und mit viel Empathie für die Alten.
der Freitag: Frau Mann, Sie haben gerade Urlaub und nur deshalb Zeit für ein Interview, sagten Sie. Wann müssen Sie wieder ran?
Stefanie Mann: Am Montag geht es wieder los. Frühschicht, um sechs Uhr. Meistens bin ich schon eine halbe Stunde eher da. Um mich einzulesen in die Dokumentationen, die Mappen. Was war los im Haus, wie geht es wem? Ich habe es ja mit Menschen zu tun, ich stelle mich nicht an eine Maschine.
Anders als früher: Sie fingen als Autolackiererin an. Ein typischer Männerberuf, wie man so sagt.
Während der Realschule, in der neunten Klasse, habe ich ein Praktikum in der Pflege gemacht, das hat mir gefallen. Aber ich war noch zu jung. Wegen der Nachtarbeit und den Wechselschichten – es sind auch mal zwölf Tage am Stück – ist es besser, wenn man schon 18 ist. In die Autowerkstatt schnupperte ich auch mal rein, das hat auch Spaß gemacht. Und dort war gleich ein Ausbildungsplatz für mich frei. Ich bin der zupackende Typ, ich wollte arbeiten. Also sagte ich Ja.
Warum blieben Sie nicht dabei?
Es war eben nicht mein Traumberuf. Und ein paar Klischees stimmen schon. Was Männer unter sich so besprechen, wie sie über Frauen reden – das kann halt ruppig und rau werden. Aber ich bin gut aufgenommen worden, das ist mir wichtig! Wir waren ein junges Team, der Altersdurchschnitt lag vielleicht bei 30. Das waren keine 55-Jährigen, die von Frauen in dem Beruf sowieso nichts halten. Oft wurde ich wie das Goldstück der Werkstatt behandelt. Der Chef konnte mich aber nicht übernehmen. Da setzte ich die Pflegeausbildung schließlich doch noch obendrauf. Die beste Entscheidung meines Lebens.
Um wie viele Menschen kümmern Sie sich heute?
Ich bin als Fachkraft für rund 50 Bewohner in einem Seniorenheim zuständig, und zwar für die sogenannte Behandlungspflege – also für die Medikamenten-vergabe, für Verbände, für das Setzen von Spritzen und Ähnliches. Was die direkte Pflege angeht, zum Beispiel das Waschen und Duschen: Da kümmere ich mich um zwölf Personen, unterstützt von einem Pflegehelfer. Alle zwölf alleine zu versorgen wäre auch körperlich gar nicht zu schaffen.
Es muss ja genug Zeit bleiben für den einzelnen ... wie nennen Sie die alten Menschen eigentlich?
Im Heim, bei der stationären Versorgung, sprechen wir von Bewohnern. In der Ambulanz, bei Hausbesuchen, von Klienten. Ich selbst nenne sie am liebsten „meine Alten“. Über die Zeit baut man da ja richtige Beziehungen auf.
Ebenjene Beziehungen stehen im Zentrum Ihres Buchs. Und es ist oft berührend, was Sie als recht junge Frau mit den Alten erleben. Oder es ist lustig. Sie schreiben etwa, Sie hätten es mit „Stinkern“ und „Giftspritzen“ zu tun.
Die Figuren sind erfunden, da steckt alles drin, was an wiederkehrenden Erfahrungen zu meinem Job gehört. Anfangs bin ich schüchtern an die Menschen herangegangen. Inzwischen habe ich Routine, im besten Sinne. Ich liebe diesen Beruf sehr. Auch deshalb gibt es das Buch: Ich will für diese Tätigkeit werben. Man wird nicht reich, das ist ein anderes Thema (siehe Info). Aber es ist menschlich erfüllend, ich bekomme wirklich viel zurück.
2.500 brutto plus Rückenschmerzen
Wir werden immer älter, und obwohl diese Nachricht eigentlich gut klingt, bereitet sie nicht nur Rentenexperten Sorgen. Das liegt zum einen an den Prognosen zur Altersarmut, die unter den heute 20- bis 40-Jährigen massiv zunehmen könnte, weil durchgängige Berufslaufbahnen seltener werden. Vor allem fehlt es aber an Menschen, die sich für die Altenpflege als Beruf erwärmen.
Schon 2030 werden bundesweit 2,5 Millionen Fachkräfte in der Pflege allgemein, auch in Krankenhäusern, fehlen, hieß es im März beim Deutschen Pflegetag in Berlin. Bis dahin wird die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,6 auf3,4 Millionen steigen.
„Was ich aus meinem Job mitnehme? Auf jeden Fall Rückenschmerzen“, sagte Stefanie Mann im Freitag-Gespräch und lachte. Tatsächlich sind die psychischen und physischen Belastungen so hoch, dass viele der rund 900.000 Beschäftigten in der Altenpflege nach sieben oder acht Jahren wieder aussteigen, wie der Bundesverband für Pflegeberufe berichtet. 77 Prozent arbeiten dauerhaft im Schichtdienst, die Hälfte davon auch nachts, mehr als 90 Prozent sind regelmäßig an Sonn- und Feiertagen im Einsatz. Vermutlich auch deshalb sind viele nur in Teilzeit tätig (gut 70 Prozent in ambulanten Diensten, rund 56 Prozent in Heimen).
Wie in Care-Berufen üblich, ist die große Mehrheit der Beschäftigten (87 Prozent) weiblich. Die Ausbildung dauert in der Regel drei Jahre, das Vollgehalt liegt beim Einstieg zwischen 2.300 und 2.600 Euro brutto. Katja Kullmann
Vor allem kommen Sie den Menschen sehr nah, auch körperlich.
Und ich habe keine vier Wochen Zeit zum Kennenlernen, wie bei einem Liebespaar, bevor es sich das erste Mal nackt sieht. Man muss erst den Distanzkreis brechen. Wenn jemand frisch einzieht – meistens kommen neue Bewohner nachmittags an –, lasse ich ihn am ersten Abend erst mal in Ruhe, wenn es sein Gesundheitszustand erlaubt. Dann taste ich mich über ein Gespräch heran, etwa so: „Na, was haben Sie denn da angestellt, das Bein gebrochen, beim Treppensteigen?“ Viele schämen sich, wenn es erstmals ans Waschen geht. Und ich sage dann: „Machen Sie sich keine Gedanken, es ist mein Beruf, und ich mache das gern.“ Einer alten Dame sagte ich neulich: „Keine Angst, ich schaue Ihnen nichts ab, ich habe doch dasselbe da unten wie Sie.“ So was hilft schon viel.
Aber es klappt nicht immer gut?
Natürlich nicht. Man merkt schnell, ob die Chemie stimmt. Es gibt Menschen – ich hoffe, das hört sich nicht böse an –, da ist gleich mehr Sympathie da als bei anderen. Das ist ja auch sonst so, im Privaten. Wenn ich vier Leute kennenlerne, ist immer einer dabei, mit dem ich mich gleich verstehe, zwei, bei denen entwickelt es sich, und einer, mit dem kann ich einfach nicht viel anfangen.
Wie mit der „harten Hanna“.
Eine zänkische, garstige Person – auf den ersten Blick. Solche Bewohnerinnen gibt es tatsächlich. Aber nach und nach erfährt man einiges über ihre Geschichte, ein Verständnis setzt ein. Zu meinen Kollegen habe ich schon gesagt: „Ich werde später auch so, ich werde auch meckern und alles besser wissen.“ Man findet halt einen Weg, miteinander umzugehen. Ich sehe die Menschen ja öfter und länger als meine eigene Familie, bin täglich acht Stunden dort. Da baut man eine große Nähe auf.
Wie schaffen Sie es, diese Nähe auch mal auszublenden, nach Feierabend? Oder mit dem Sexualtrieb mancher Bewohner umzugehen? Ich wusste gar nicht, dass das zu einem Problem für Pflegekräfte werden kann: die sexuelle Enthemmung bei Senioren.
Da muss man unterscheiden. Bei Demenzpatienten kann es ein Symptom sein. Da kommt es vor, dass jemand dauernd an sich herumspielt, ohne aber bewusst provozieren zu wollen. Es gibt auch Fälle, da ist der Kopf ganz klar. Und wenn ich jemanden im Intimbereich waschen muss, kommt es bei demjenigen manchmal eben ... zu einer ungewollten Reaktion. Das ist den Männern dann sehr peinlich. Ich versuche dann, das zu übergehen, indem ich über das Wetter rede, über das Mittagessen oder das Fernsehprogramm.
Sie schildern auch Übergriffe.
Ja, es gibt welche, die grinsen frech, machen anzügliche Bemerkungen, tatschen mich an. Aber das läuft nicht, da gibt’s klare Ansagen. Wenn einer so fit ist, dass er onanieren kann, wenn ich ins Zimmer komme, dann kann er sich auch selber waschen. Punkt. Aus. Ende.
Können Sie den Dienst in einem solchen Fall verweigern?
Ja. Ich hatte eine Kollegin, klein, schlank, eine ganz Hübsche. Ein Bewohner war hinter der her wie verrückt, mit Anfassen und allem. Auch wenn Männer im Pflegeberuf immer noch die Minderheit sind: Einen gibt’s immer im Kollegium, auf jeder Station. Das war bei uns ein richtiger Bär, den haben wir dann statt der Kollegin reingeschickt. „Ja, wo ist denn die Schwester?“ – „Heut gibt’s keine Schwester, Sie müssen jetzt mit mir vorliebnehmen.“
Mit den letzten lebenden Altnazis haben Sie auch zu tun.
Ja, leider. Es gab einen Herrn, ganz klar im Kopf, der war richtig stolz, dass er in der SS war, zeigte mir seine Tätowierung (Mitglieder der SS-Elite und der Waffen-SS trugen ihre Blutgruppe auf die Innenseite des linken Oberarms tätowiert). Bei uns arbeiten viele Kolleginnen aus Polen oder Rumänien. Der Mann sagte immer wieder Dinge wie: „Euch hätten wir vergast!“ Bis ich ihm an den Kopf knallte: „Niemand will diesen Mist hören. Wenn Sie das nicht lassen, können Sie künftig auf Ihrem Zimmer essen. Basta!“ Ändern kann man so einen nicht mehr.
Und der demente Bewohner, der „Heil Hitler!“ ruft, wenn er im Rollstuhl über den Flur fährt?
Dieser Mann ist in seinem eigenen Film, der ist wieder 23. Wenn jemand sich in einer anderen Zeit befindet, gedanklich, versuche ich nicht, ihn mit Gewalt in „unsere Welt“ zurückzuholen. Wenn eine demente Frau zum 100. Mal fragt: „Wo ist mein Mann?“ – soll ich ihr dann zum 100. Mal sagen, dass der längst tot ist? Sodass sie jedes Mal wieder erschrickt und sich stundenlang grämt? Das macht einen doch fertig! Nein, da sage ich: „Der ist bei der Arbeit.“ Das ist eine Antwort, die die Frau, die in Gedanken um die 30 und gerade frisch verheiratet ist, gut verarbeiten kann. Und den Rest des Tages kann sie sich mit anderen Dingen beschäftigen. Mein Eindruck ist, ganz ehrlich: All die Medikamente nützen nichts, Altersdemenz lässt sich nicht aufhalten. Ich glaube aber, dass demente Menschen ziemlich glücklich sein können.
Was haben Sie über den Tod gelernt bei Ihrer Arbeit?
Inzwischen habe ich so viele Leute begleitet auf der letzten Strecke, dass ich weiß, wie friedlich das sein kann. Viele sagen schon vorher: „Ich hatte ein gutes Leben. Jetzt kann’s kommen. Ich hab keine Angst.“ Ich habe dadurch auch begriffen, worauf es im Leben ankommt: Familie und Freunde. Ganz wichtig ist, dass man alles Menschliche geklärt hat. Wenn es Streit gab oder Missverständnisse, können Menschen nicht gut loslassen. Man merkt den Leuten an, wenn da noch eine Rechnung offen ist, sie sind dann sehr unruhig und fragen nach Personen, die sie vielleicht lange schon nicht mehr gesehen haben. Zu sterben, wenn noch etwas unter dem Teppich schwelt, das ist sehr schwer.
Was halten Sie von Sterbehilfe?
Ich bin Christin, war Ministrantin und sage: Lieber Herrgott, du kannst nicht verlangen, dass jemand endlos leidet. Wenn einer nicht mehr möchte, muss er heute in die Schweiz fahren oder von einer Brücke springen und zieht dann am Ende andere noch mit rein. Das ist doch unwürdig. Es soll ja kein Gesetz geben, in dem steht, wer über 80 ist und sich nicht mehr selbst versorgen kann, soll Schluss machen. Aber für Angehörige ist es oft schwierig, auch für uns Pfleger: Wäre es im Sinne des Sterbenden, die lebensverlängernden Maßnahmen zu beenden? Darum ist eine Patientenverfügung so wichtig. Ich sage es meinen Freunden jetzt schon: Überlegt euch das, schreibt auf, was ihr dann wollt. Insgesamt würde ich sagen: Ich bin noch keine 30, aber ich glaube, ich kenne das Leben schon ganz gut.
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