Der Freitag: Herr Saunders, über Deutschland schreiben Sie in Ihrem Blog auf Dougsaunders.net: „Es ist wohl das einzige Land der Welt, in dem ein Hiphop-Song von der Langeweile einer Festanstellung erzählt.“
Doug Saunders: Ja, Marteria heißt der Rapper. Ich zitiere seinen bemerkenswerten Songtext auch in meiner Zeitung Globe and Mail.
Der Song trägt den Titel „Kids“, und es heißt darin: „Alle haben nen Job / Ich hab Langeweile / Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern / Alle spielen jetzt Golf, jeder fährt Passat.“
Den Deutschen geht es gut – und sie lieben ihre Festanstellungen. Schauen Sie sich um: Es gibt kaum ein anderes Land mit so viel Wohlstand. Da ist also diese Sicherheit im Rücken, aber sie wird nicht genutzt für Wagnisse oder Ideen. Erstaunlich, ein globaler Spezialfall. Ein Vergleich von 24 Ländern mit ähnlichen Strukturen hat gezeigt: In anderen Ländern sind viel mehr Menschen selbstständig, gründen ihre eigenen Geschäfte. Deutschland liegt da abgeschlagen auf dem 20. Platz. Ein Land voll von Menschen, die am liebsten für andere arbeiten.
Sie sagen, Deutschland könnte deshalb einen Schwung Einwanderer gut gebrauchen. Aber Sie meinen nicht den oft beschworenen Facharbeiter, richtig?
Es geht eher um Leute, die vielleicht einen Kiosk aufmachen, einen Imbiss, eine kleine Reparaturwerkstatt. Von solchen Risikounternehmern gehen starke Impulse aus, das sehen wir in Portugal: Das Land hat sich nach der Krise von 2008 relativ schnell wieder berappelt. Dazu beigetragen hat ein Anwerbeprogramm für Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern, aus Brasilien, China, der Ukraine. Das muss man sich mal vorstellen: Es gibt eine große Arbeitslosigkeit in Portugal – aber die konser-vative Regierung einigt sich mit der linken Opposition auf dieses „One-Stop-Shop“-Programm, mit vereinfachten Visa, Krediten, Gewerbeerlaubnissen. Das ist toll!
Welche Effekte hatte das?
Neue Jobs entstanden, auch für Portugiesen, und sei es nur lokal, in kleinem Maßstab. Aber auch sonst hat das Engagement der Einwanderer positiv gewirkt, wie eine Erfrischung für die Gesellschaft. Die Gründerrate bei den Migranten ist in Portugal um 14 Prozent gestiegen, bei den Portugiesen selbst um sechs Prozent. Es bewegt sich dort wieder etwas.
Sie sprechen wie ein Wirtschaftspolitiker. Das Label Liberaler stört Sie nicht?
Nein. Ich verstehe mich allerdings als liberal im klassischen Sinn – nicht als neoliberal, wenn Sie darauf anspielen. Ich bin kein Laissez-faire-Utopist! Aber: Menschen müssen sich als selbstbestimmte Akteure frei bewegen können, auch im wirtschaftlichen Sinn.
In Ihrem Buch „Arrival City“ bezeichnen Sie Migranten mit Kiosken oder Imbissen als „katalytische Klasse“.
Den Begriff haben Entwicklungsökonomen erfunden. Ob in Shanghai, Mumbai oder Paris: Oft stammen Zuwanderer aus ländlichen Regionen. Sie landen zunächst an den Peripherien der Städte, wir sprechen etwa von Slums oder Favelas oder in Europa von Problemvierteln. Im Idealfall gibt es da schon ein kleines Netzwerk von Menschen aus der Heimatregion. Sagen wir, eine Familie gründet dort ein Lebensmittelgeschäft: Das sorgt für eine gewisse Wirtschaftsaktivität in dem Viertel. Die jungen Leute sehen: Okay, es ist möglich, etwas auf die Beine zu stellen, ich sollte mich in der Schule anstrengen. Vielleicht hat nur jede 20. Familie auf Anhieb Glück mit ihrem kleinen Gewerbe. Aber genauso sind alle westlichen Metropolen groß geworden: Zuwanderung ist der Schlüssel zu Reichtum.
Was Sie hier umreißen, ist das klassische Aufstiegsversprechen: „Streng dich an, dann wird’s.“
In den Slums und den von uns oft so genannten schlimmen Vierteln entsteht gerade unzweifelhaft die Mittelschicht der Zukunft. Diese neu erwachsende Mittelschicht hat auf jeden Fall eine Wanderung hinter sich. Ihre Grunderfahrung ist der Neuanfang auf fremdem Terrain. Diese Menschen haben den unternehmerischen Geist verinnerlicht. Übrigens müssen wir Europäer oder Nordamerikaner uns nicht einbilden, dass alle zu uns wollen. Die Städte mit dem insgesamt größten Zustrom an Neubürgern liegen in Südostasien. Und an der Spitze liegt Lagos in Nigeria.
Schön, dass Sie das so klar sagen. In ganz Europa erlebt die Fremdenfeindlichkeit derzeit ja einen gewaltigen Aufschwung.
Wenn es so wäre, wäre das ein Riesenfehler. Denn in naher Zukunft werden die Staaten in einen harten Wettbewerb treten, Migranten überall umworben werden. Was von nationalistischen Polemikern ausgeblendet wird: Viele Gesellschaften, auch die gern gehassten muslimischen, schrumpfen. Nehmen Sie den Iran: Dort hatte eine Familie noch in den 80er Jahren vier bis sieben Kinder. Heute sind es statistisch nur noch 1,7. In der Türkei oder auch in Bangladesch ist es ähnlich. Die Angst vor einer feindlichen Übernahme qua Geburtenrate ist unbegründet.
Genau an diese Ängste appellieren aber die neuen Reaktionäre.
Empirisch betrachtet ist der Rassismus oder Extremismus in den Krisenjahren nicht stärker geworden. Es ist im Grunde einfach: Wenn die Nachrichten schlecht sind, kommen weniger Leute. In den Jahren nach 2008 gingen Zehntausende zurück in die Türkei oder nach Osteuropa. In den USA dasselbe: Zehntausende bewegten sich zurück nach Mittelamerika. Die Intoleranz gegenüber Einwanderern nimmt zu, wenn ihre Zahl wächst. In Deutschland ist das jetzt wieder der Fall. Wie heißt Ihre anti-europäische Partei noch mal?
AfD, Alternative für Deutschland.
Eine extrem interessante Partei! Den meisten Zuspruch erfährt sie da, wo die Krise am wenigsten Schaden angerichtet hat, weit im Westen, wo der Wohlstand immer noch sehr hoch ist. Meine Theorie: Viele AfD-Wähler sehen die EU insgeheim als Wurmfortsatz der ungeliebten Wiedervereinigung.
Wie ist das zu verstehen?
Im Grunde geht es um Vorbehalte gegen die innerdeutsche Migration. Man denkt sich: „Okay, wir hatten gerade erst diese Flut von schwierigen Menschen und all deren Problemen aus dem Osten. Und noch immer ist der Motor in weiten Teilen der ehemaligen DDR nicht angesprungen!“ Tatsächlich geht es dem Nachbarland Polen in ökonomischer Hinsicht viel besser als etwa Brandenburg.
Stichwort Brandenburg: Ist Berlin eine typische „Arrival City“?
In gewisser Weise ja. Über 500.000 junge Spanier und Griechen sind zuletzt nach Deutschland gekommen, viele nach Berlin. Die freie Beweglichkeit innerhalb der EU ist ein Druckventil. Klar gesagt: Offene Grenzen verhindern Extremismus. Es gibt in Südeuropa viele junge Leute ohne Jobs. In früheren Krisen hätten sie sich vielleicht einer extremen Partei zugewandt. Heute ziehen sie um und werden selber zu Migranten. Sie haben die Möglichkeit, ihre Lage zu verbessern, indem sie sich bewegen.
Lampedusa-Flüchtlinge haben deutlich weniger Möglichkeiten. Mehr als 20.000 Menschen sind im Mittelmeer schon gestorben.
Ich weiß, dass es eine breite Solidarität für Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten gibt, besonders in deutschen Großstädten.
Aber die Grenzen sind knallhart. Nur wer eine feste Beschäftigung nachweisen kann und über 46.000 Euro im Jahr verdient, hat die Chance auf eine EU Blue Card.
Vielleicht ändert sich etwas daran, wenn auch konservative Parteien in Migranten verstärkt potenzielle Wähler sehen. In Kanada ist es schon so. Auch die Union der Angela Merkel hat sich in diesem Punkt ja bewegt. Eigentlich nicht überraschend. Viele Migranten vertreten im Kern konservative Werte. Ihnen ist der Zusammenhalt der Familien wichtig – und als Kleinunternehmer haben sie ein Interesse an niedrigen Steuern. Etwas ganz anderes: Wissen Sie, woher das Gericht Chicken Tikka Masala stammt, das überall in indischen Restaurants serviert wird?
Na, aus Indien eben?
Aus Schottland. Es entstand dort in der Industriekrise in den 60er Jahren. Fabriken machten dicht, auch viele Pakistaner wurden arbeitslos. Einige übernahmen leerstehende Pubs und boten dort ihre Gerichte an. Den Schotten schmeckte es zwar, aber sie fanden es ein bisschen zu trocken. Also kippten die Pakistaner Soße drüber und gaben dem Ganzen einen Fantasienamen. Chicken Tikka Masala ist ein schönes Beispiel für den Erfolg dessen, was wir eine neue Hybridkultur nennen können. Die Kinder und Enkel jener Migrantengeneration sind heute übrigens erfolgreicher an den Universitäten als viele weiße Briten.
Das Gespräch führte Katja Kullmann beim Kongress Cities of Migration in Berlin
Doug Saunders, geboren 1967 in Hamilton/Ontario, zog es auf seinen Recherchereisen nach Berlin, Rio, Paris oder Los Angeles. Sein Wissen zum Thema Migration bündelte er in dem Bestseller Arrival City (Blessing 2011, 576 S., 22,95 €). Zuletzt veröffentlichte er das Buch Mythos Überfremdung. Eine Abrechnung (Blessing 2012, 256 S., 18,99 €).
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