Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass man Kalbsfüße rasieren sollte, geschweige denn, dass man sie essen kann. Aber dann sah ich Oma und Bella, zwei alte Damen, wie sie in ihrer Küche beisammensitzen, schwatzen und dem toten Tier auf die Pelle rücken, mit hellblauen Einwegrasierern. Kalbsfüße werden traditionell für Sülzen verwendet, heißt es bei Wikipedia, man kann sie auch geschmort oder gebraten verzehren.
Oma und Bella kennen die alten Rezepte auswendig. Sie sind an die 90 Jahre alt und die Protagonistinnen eines Dokumentarfilms, der nach ihnen benannt ist: Oma & Bella. Gedreht hat den Film Alexa Karolinski. Ihre Oma ist auch im Film die Oma, und sie hat, wie ihre Freundin Bella, ein KZ überlebt. Die Frauen stammen aus Litauen und aus Polen. Heute teilen sie sich eine Altbauwohnung in Berlin. Eigentlich wollen sie nicht (mehr) über den Holocaust reden – tun es nach und nach aber doch, beim Gemüseputzen und Geflügelrupfen, vor der Kamera der Enkelin.
Oma & Bella ist für mich eine sogenannte Perle. Einer meiner Favoriten aus der Masse der Wettbewerbsbeiträge, die für den diesjährigen Grimme-Preis eingereicht wurden. Als Gastkritikerin saß ich in einer der drei Nominierungskommissionen. An diesem Freitag (4. April) wird die Auszeichnung nun wieder vergeben, inzwischen schon zum 50. Mal. Eine Gala ist geplant, Bundespräsident Joachim Gauck wird erwartet, 3sat überträgt live. Der Grimme- Preis gilt als die bedeutendste Medienauszeichnung im Land, manche nennen ihn den „Fernseh-Oscar“. Ausgerechnet sein 50. Jubiläum fällt nun aber in eine besonders miese Zeit für das Medium. Nie schien Fernsehen so unbeliebt wie heute.
Fernsehen: Was ist das dieser Tage überhaupt für ein Wort? Schaut irgendjemand noch ernsthaft oder gar beeindruckt zu? Folgt man Leitartikeln und Kneipengesprächen, Medienblogs und Twitter-Diskussionen, gewinnt man den Eindruck: Nein. Alle sind enttäuscht, gernervt, angewidert. Markus Lanz, Mario Barth, Tatort-Katastrophen: Als „Lagerfeuer“ der Republik scheint das TV nicht mehr zu taugen, sondern nur noch als Empörungsgenerator. Vor allem in den Milieus der urbanen Bildungseliten, wo das Distinktionsinteresse besonders ausgeprägt ist, gehört es zum guten Ton, sich vom Gemeingut TV zu distanzieren: „Keiner, den ich kenne, schaut mehr Fernsehen, kaum einer hat noch ein sogenanntes Fernsehgerät“, schrieb neulich etwa Sibylle Berg in ihrer SpiegelOnline-Kolumne.
Am Grimme-Preis und seiner alt-bundesrepublikanischen „Lagerfeuer“-Tradition lässt sich genau solch eine Skepsis wunderbar aufhängen. Vergangenes Jahr hatte die Grimme-Kommission Unterhaltung das RTL-Dschungelcamp auf die Nominierungsliste gesetzt. Einen Preis erhielt der Känguru-Hoden-Zauber nicht, aber es genügte die Listensetzung, und die Feuilletons heulten: Verrohung, Verdummung, Werteverlust!
Es wird gelästert und gemotzt
Wie kommt die Auszeichnung aber zustande? Werden da etwa Bestechungsgelder herumgeschoben? Allein schon aus Neugier auf die Mechanik des Verfahrens nahm ich die Grimme-Einladung an – und kann nach einem halben Jahr konzentrierten Kampffernsehens sagen: Es geht alles ganz ordentlich zu, mit akribisch geführten Punktelisten, kannenweise Konferenzkaffee und Paletten von schnödem Streuselkuchen.
Drei Kommissionen gibt es: Fiktion, Unterhaltung sowie Information und Kultur. Sie setzen sich zusammen aus je sieben bis zehn Medienwissenschaftlern, Journalisten, Volkshochschulvertretern. Gut 300 TV-Beiträge werden, je Sparte, alljährlich für den Wettbewerb vorgeschlagen, teils von den Sendern, teils von Zuschauern. Über mehrere Monate treffen sich die Kommissionen immer wieder zur tagelangen Sichtung des Materials. Mindestens 15, im Idealfall 25 Prozent eines Beitrags werden angeschaut. Man sieht in den Anfang hinein und entscheidet gemeinschaftlich, ob es einen „reinzieht“, ob man sich „festsieht“. Oder ob man der Sache an einer späteren Stelle noch eine zweite Chance gibt: „Gehen wir doch mal auf Minute 40.“ Draußen an den Bildschirmen, wie es im TV-Jargon oft heißt, wird im Zweifelsfall natürlich einfach umgeschaltet.
Aller feuilletonistischen Filterbubble-Arroganz zum Trotz gibt es sie ja immer noch: die Zuschauer. In 95 Prozent der deutschen Haushalte steht sehr wohl ein Fernsehapparat. Durchschnittlich sind es sogar 1,58 Geräte, hat die Gesellschaft für Konsumforschung ermittelt. Zwei Drittel davon, 67 Prozent, sind Flachbildschirmgeräte der neueren Generation. Ja, die Deutschen haben aufgerüstet und investiert, in ihre Empfangstechnik. Und sie schalten öfter ein und bleiben länger dran denn je. 1994 betrug die durchschnittliche TV-Sehdauer 167 Minuten am Tag. 2013 war es noch mal eine Dreiviertelstunde mehr: 211 Minuten.
Die Deutschen glotzen also – aber sie lieben ihr Fernsehen nicht. Im Zentrum der Kritik stehen derzeit die öffentlich-rechtlichen Sender. Vor allem in der Gebührendebatte entlädt sich des Zuschauers Zorn. Von einer „Zwangsabgabe“ ist die Rede oder von der „GEZtapo“. Anfang 2013 trat die Reform des Gebührensystems in Kraft. Gezahlt werden muss jetzt pro Wohn- oder Gewerbeeinheit, derzeit 17,98 Euro im Monat. Das neue System sei eine versteckte Wohnraumsteuer, empörten sich viele. Nicht nur der Autovermieter Sixt klagt jetzt, auch die Drogeriekette Rossmann zog dagegen vor Gericht, genau wie ein 29 Jahre alter Nachwuchsjurist, der als „Rechtsanwalt Ermano Geuer aus Ingolstadt“ nun eine eigene kleine Medienprominenz genießt. Eine erste Entscheidung soll am 15. Mai vor dem bayerischen Verfassungsgericht fallen. Parallel dazu hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nun entschieden, dass der Staatsvertrag des ZDF dem Grundgesetz widerspricht. Der Einfluss politischer Parteien sei zu groß, das ZDF drohe zum „Staatsfernsehen“ zu werden. Alles Öl ins Feuer der TV-Verachter.
Was manchen Zuschauerschmerz am meisten schürt, ist aber das Programm an sich. Quote versus Qualität: Mit Macht sind die kulturpessimistischen Parolen aus den Anfangsjahren des Privat-TV zurückgekehrt. Vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) – „Es geht nicht nur darum, was die Leute sehen wollen, sondern auch darum, was sie sehen sollen!“ – bis ins Kulturressort des Spiegel wird wahlweise das Publikum beschimpft oder ein sogenanntes Qualitätsfernsehen eingefordert. Auch wenn niemand erklären kann, wie das genauer aussehen soll und warum weder die Mediatheken, noch die zahlreichen Spartensender, von ZDFneo bis Einsfestival, ausreichen, um das Bedürfnis nach – nicht ganz so populärer – Kultur zu stillen.
Euphorie und wilde Schnitte
Goodybe, Deutschland! Die Auswanderer ist eine meiner Lieblingssendungen. Bei einer Kommissionskollegin, einer sehr gescheiten Literaturkritikerin, ist es Germany’s Next Topmodel. „Schreib das bloß nicht!“, bleute sie mir ein. Nach den ersten beiden Sitzungstagen, nach zweimal zwölf Stunden Gruppenfernsehen, war ich jedenfalls gänzlich euphorisiert. Mein Eindruck: Das, was im deutschen Fernsehen so gesendet wird, ist ganz unglaublich gut! Reportagen über amerikanische Mittelschichtsfamilien, die so verarmt sind, dass sie in ihren Autos leben. Über die perfiden Marketingstrategien von Energy-Drink-Unternehmen, den NSU-Prozess, Demenzkranke, Elektroschrott in Afrika und den Alltag kleinkrimineller Großstadtkids. Sogar über persönliche Heldinnen wie die Underground-Fotografin Nan Goldin, wie Georg Kreisler oder Pier Paolo Pasolini gab es Beiträge. Ein typischer Anfängerinnenfehler: Erst mal fand ich einfach alles interessant.
Die erfahrenen Kollegen lächelten milde und rieten mir, mich nicht vom Thema bestechen zu lassen – ein Beitrag kann trotzdem schlecht gemacht sein. Etwa wenn Folgendes passiert: „Wir stehen vor verschlossenen Türen“, sagt der Reporter – und man sieht, wie er vor einer verschlossenen Tür steht. Auch schlimm: Hysterische Schnitte, die Skandalqualität vortäuschen. Besonders fürchterlich wird es oft, wenn es um das Nazi-Regime geht. Es existiert da quasi eine eigene Sparte, die „Drittes Reich“-Dokumentation. Sonore Erzählerstimmen geben Anekdoten über prominente Nazis zum Besten, Archivbilder zeigen die Mörder „einmal aus einer ganz privaten Perspektive“, und bei all dem schwingt eine schlecht getarnte Bewunderung mit. In der Kommission gab es dazu den Spruch: „Na kommt, ein Hitler geht noch vor der Zigarettenpause.“
In solchen Momenten erinnerte ich mich an das, was ich zur Grimme-Vorbereitung noch schnell gelesen hatte: Dass der weltweit erste reguläre TV-Sender nämlich 1934 in Berlin an den Start ging, wenn auch nur für ausgewählte Edel-Nazis empfangbar. Das Programm sollte, so der „Reichssendeleiter“-Jargon, „das Bild des Führers unverlöschlich in alle deutschen Herzen pflanzen“.
Und dann dachte ich daran, wie oft derzeit auf amerikanische (Bezahl-)TV-Serien verwiesen wird, auf Breaking Bad oder House of Cards, wenn es um die Idee eines „besseren Fernsehens“ geht. Und wie schade es ist, dass in diesem Zusammenhang allzu oft eine Überheblichkeit durchblitzt, die an Kultur-Klassismus grenzt. Harald Schmidt erfand einmal den Begriff „Unterschichtenfernsehen“ – und wurde damit womöglich missverstanden. Lustvoll wird sich heuer etwa über Schlagerpartys im Gebührenzahler-TV echauffiert, unter breitbeiniger Missachtung der Tatsache, dass Hunderttausende diese Musik tatsächlich gern hören, ja, sie kaufen sie sogar für den Individualgebrauch in ihrem Player. Niemand hat den Ekel vor den Vielen so deutlich formuliert wie wiederum Sibylle Berg. Sie schrieb von „Einschaltquoten (…), die durch den seltsamen Geschmack von tausend Durchschnittsmenschen ermittelt werden - wer sind die? Gehen die arbeiten? Und könnten es meine Freunde sein?“
Nach Tausenden von angezappten Sendeminuten stellen die Grimme-Kommissionen dann irgendwann ihre Short Lists zusammen, je ein Dutzend Empfehlungen für die Jury – wieder andere Menschen, die daraus dann die Preisträger ermitteln. Und bei allem Quatsch, den man sich als TV-Kritikerin auch ansehen muss, bin und bleibe ich beeindruckt, wie schnell, scharf und schlau das Fernsehen doch auf die Realitäten der Gegenwart reagiert. Zu den Favoriten in unserer Abteilung „Information und Kultur“ zählten Carmen Losmanns Dokumentation Work hard-Play hard über den Zynismus in Human Resources-Abteilungen. Und Kathrin Rothes Film Betongold, Untertitel: Wie die Finanzkrise in mein Wohnzimmer kam. Beide Beiträge erhalten jetzt auch einen Jury-Preis. Genau wie Oma & Bella (die einen Sonderpreis erhalten) sind auch diese Filme zuvor schon auf Festivals gezeigt worden. Was das Grimme-Institut würdigen kann, sind immer die erste und die finale Leistung der TV-Redaktionen: Wenn ein Sender sich an den Produktionskosten beteiligt und das Werk dann auch ausstrahlt. Ja, so ist das: Ohne diese Finanzierungen wären viele sehr gute Filme schlicht nicht möglich.
Die Schlagzeilen werden nun, wie in jedem Grimme-Jahr, vom Segment „Unterhaltung“ dominiert werden. Diesmal ist Circus HalliGalli auf ProSieben der Gewinner. Das Fernsehen ist nun mal kein Feuilleton. Aber es ist auch lange nicht so schlecht, wie viele es dieser Tage so gern behaupten. Sein Hauptproblem ist seine Verzagtheit: Ein Großteil dessen, was wir als Kritiker zu begutachten hatten, lief auf Nischenplätzen, „Dienstag, 23.45 Uhr“ – wenn so gut wie niemand zuschaut. Ich wiederhole: Das Fernsehen ist wirklich gar nicht so schlecht! Es sorgt nur leider dafür, dass das kaum jemand mitbekommt.
Das Grimme-Institut und sein begehrter Preis
Undotiert, aber angesehen: Der Grimme-Preis ist reine Ehrensache, Geld gibt es dafür keines. Die Sieger bekommen eine Trophäe, die an ein stilisiertes TV-Gerät erinnert. Der Preis geht auf eine Initiative des Deutschen Volkshochschulverbands zurück. 1964 wurde er erst-mals verliehen, in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Marl, in der auch das heutige Grimme-Institut seit seiner Gründung 1973 sitzt. Benannt ist er nach dem ersten Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks, Adolf Grimme (1889–1963). Ausgezeichnet werden heute nicht mehr nur TV-Produktionen, sondern auch gelungene Web-Auftritte. Für sie gibt es seit 2000 den Grimme-Online-Award. Als preiswürdig gelten Medienformate, die „für die Programmpraxis vorbildlich und modellhaft sind“, heißt es in den Grimme-Leitlinien.
Sendetermine: Die diesjährige Verleihung wird am 4. April ab 19 Uhr live auf 3sat übertragen. Der WDR zeigt am 4., 8. und 9. April die Dokumentation Es werde Stadt! 50 Jahre Grimme-Preis (Regie: Dominik Graf)
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