Humanitäre Hilfe und die NGOs, die sie praktizieren, sind ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. In vorderster Front stehen die Medien, die nun das »Hilfsbusiness» als Skandal enthüllen, obwohl sie durch die Medialisierung der Gesellschaft und unter weidlicher Ausschöpfung des Quotenrenners Katastrophen-TV dieses erst mit erzeugt haben. Zu Wort meldet sich die Bundeswehr, die im Kosovo den professionellsten NGOs den Rang im Wettbewerb abgelaufen hat, wer am schnellsten generalstabsmäßig Flüchtlingslager aufbaut. Und auch die Helfer selber haben etwas zu sagen: »Das Spektakel der Hilfe ist mittlerweile an die Stelle der Politik getreten, die punktuelle Linderung des Leidens ersetzt in unserer Fernsehgesellschaft den Kampf gegen das Böse«, s
Scheitern inklusive
NIKARAGUA ZUM BEISPIEL Kritische Nothilfe - ein Drahtseilakt
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, so Rony Brauman, ehemaliger Präsident von »Ärzte ohne Grenzen«.Die humanitäre Hilfe hat nicht erst im Kosovo ihre Unschuld verloren. Und auch die NGOs, egal ob aus dem kirchlichen Spektrum oder eher aus dem linken Milieu, tragen schwer an der Last, die ihnen nach dem Ende des Kalten Krieges in überschwänglicher Globalisierungseuphorie von anderen aufgebürdet wurde: Sie nämlich sollen angesichts eines außer Rand und Band geratenen freien Markts die Demokratie retten und für eine gerechtere Weltordnung sorgen. Diese Anmaßung haben die NGOs nicht zu verantworten. Ähnlich wie die humanitäre Hilfe werden sie mit dieser Rollenzuweisung zum Ablageplatz für das schlechte Gewissen einer Weltgesellschaft, die im Zuge der Globalisierung droht, jeden sozialen Gedanken aufzugeben. Bei allem berechtigten Unmut über Selbstanmaßung und NGOisierung des Entwicklungsgedankens - hier muss sich Kritik doch zuallererst an andere Adressaten richten.Wer die Professionalisierung der NGOs beklagt, sollte nicht nur den politischen Kontext, nämlich die Auflösung der Solidaritätsstrukturen und das Scheitern der meisten Befreiungsprojekte berücksichtigen, sondern auch eine linke Geschichte von Politikversuchen mit zwiespältigem Ergebnis. Nikaragua zum Beispiel. Das Land wurde in den achtziger Jahren überzogen mit ausländischen Sach- und Geldmitteln. In den Brigaden sozialisierte sich eine ganze Generation Solidaritätsbewegter. Und linke Hilfsorganisationen wie medico international sind mit der Solidarität für dieses kleine Land groß geworden. Mitte der achtziger Jahre hätte man ohne weiteres einen Reiseführer »Nikaragua von Projekt zu Projekt« schreiben können. Und wer ihm gefolgt wäre, hätte das Land kennen gelernt.Wieviel jedoch ist von diesen Schulen und Kindergärten, Konservenfabriken und Krankenhäusern übrig geblieben? Viele, möglicherweise zu viele Solidaritätsruinen. Das Gutgemeinte ist eben nicht immer auch das Angebrachte. Dass diese Erfahrungen in professionalisierten NGOs aufgehoben, reflektiert und für die weitere Arbeit berücksichtigt werden, ist doch wenigstens ein positiver Aspekt. Scheitern ist selbstverständlich weiterhin eingeschlossen.Nikaragua ist neben allen politischen Projektionen der Vergangenheit ein gutes Beispiel dafür, wie humanitäre Hilfe gegenwärtig funktioniert. Es ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas. Politische und natürliche Katastrophen gehen hier ein Bündnis ein, das die Nikaraguaner mit der fatalistischen Bemerkung kommentieren: »Wenn Gott nicht mit uns ist, ist er wenigstens mit anderen.« Letztes Beispiel: Hurrikan Mitch im Oktober 1998. Er verheerte in Honduras und Nikaragua ganze Landstriche, Tausende Menschen starben, Hunderttausende wurden obdachlos. Sie verloren zumeist nicht nur ihr Dach überm Kopf, sondern auch ihre Existenzgrundlage. Allein am nikaraguanischen Vulkan Casita starben mehr als tausend Menschen unter einer Schlamm und Gerölllawine, die Dörfer und Ackergrund unter sich begrub.Wie reagierte der internationale Hilfsapparat, den seit Beginn der neunziger Jahre die EU-Behörde für humanitäre Hilfe ECHO, und USAID, das Hilfsprogramm der Washingtoner Regierung, dominieren? Es wurden sofort Notprogramme aufgelegt und von den entsprechenden internationalen Hilfsorganisationen abgerufen, die über hocheffiziente Apparate und internationale Logistik verfügen, um medizinische Erstversorgungen zu gewährleisten, Notunterkünfte zu errichten und Nahrungsmittel zu liefern. Die Überlebenden der Katastrophe am nikaraguanischen Casita flohen in die nahegelegene Provinzstadt Chinandega. Hier, wo normalerweise Finqueros einreiten, um Saatgut und Düngemittel einzukaufen, gaben sich plötzlich Helfer aus aller Welt die Klinke in die Hand. Ein absurdes Geschehen, das den Betroffenen aber sehr wohl das Gefühl vermittelte, man werde angesichts des Schreckens nicht im Stich gelassen.Dass diese Überflutung mit internationalen Hilfsaktionen zu problematisieren ist und manchmal mehr schaden als nutzen kann, ist unter den NGOs Konsens. In einer von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachteten Diskussion hat man längst gemeinsame Standards für den Umgang mit solchen Notsituationen entwickelt. Ist damit die humanitäre Nothilfe gegen Kritik gefeit? Mit den Bildern von den Katastrophen werden auch gleich die Bilder von der schnellen Hilfe in die Haushalte der Geberländer geliefert. In der Suggestion, dass jede Katastrophe durch Hilfe zu kontrollieren und zu bewältigen sei, liegt das eigentlich Fatale. Denn die Gewährung und Ausgestaltung der Hilfe des »Nordens» ist zu einer Frage der Einschaltquote geworden. Da geht es nicht nur darum, ob die EU-Fahne im Bild ist, wenn die Hilfsgüter geliefert werden, sondern auch darum, wann, wem und wie lange geholfen wird.Durch die Medialisierung hat sich der Druck der Geldgeber auf die Hilfsorganisationen erheblich verstärkt, sehr schnell vorzeigbare Ergebnisse zu liefern. Genau das geschah auch in Nikaragua. Häuser und Latrinen wurden zum Teil so provisorisch und im Schnellverfahren errichtet, dass sie die nächste Regenzeit nicht überstehen konnten. Unter dem Druck der Einschaltquote und der Geber ist dies zwar Hilfe in der Not, die aber ihre Notwendigkeit wieder selbst reproduziert. Solange humanitäre Hilfe nur die Armut wiederaufbaut, ist der nächste Einsatz humanitärer Hilfe absehbar.Unter dem Stichwort »kritische Nothilfe» diskutiert medico international Möglichkeiten, aus diesem Teufelskreis auszusteigen. In welche Richtung sich ein Konzept von kritischer Nothilfe entwickeln könnte, zeigt das Beispiel »El Tanque», ein Wiederansiedlungsprojekt für 200 Familien, die Angehörige, Häuser und Land während der Mitch-Katastrophe am Casita verloren haben. Mit El Tanque ist ein Dorf entstanden, das aus festen Häusern und nicht Wellblechhütten besteht und in dem jeder Familie so viel Land zur Verfügung hat, dass sie für den Eigenbedarf und zur Sicherung der Existenzgrundlage produzieren kann. Möglich wurde dies nur, weil die Familien sich dem Automatismus der schnellen Hilfe verweigerten und nicht bereit waren, in notdürftige Hütten zu ziehen und auf die Zusage von Ackerland zu verzichten.Dass sie trotz der schweren Traumatisierung durch die Katastrophe, die Kraft und den Willen besaßen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und in einer Aktion mit Signalwirkung 700 Hektar Land besetzten, verweist auf die besondere Situation in Nikaragua. Hier gibt es noch aus der Zeit der sandinistischen Regierung ein hohes Maß an Selbstorganisation. Erst durch diese Initiative der Betroffenen war eine kritische Nothilfe möglich, die die ausgetretenen Pfade humanitären Hilfe verlassen konnte. Nach der Landbesetzung konnte medico mit Hilfe von Spendengeldern und Mitteln des Entwicklungsministeriums den Hausbau finanzieren, Saatgut kreditieren und juristischen Beistand gewähren, mit deren Hilfe die Bauernfamilien Entschädigungen für ihr verlorenes und enteignetes Land durchzusetzen versuchen. Psychosoziale Betreuung und Organisationshilfen sollen die nach wie vor prekäre Situation der Bauern und ihrer Familien stabilisieren.Bei El Tanque ist es zumindest vorläufig gelungen, den Teufelskreis der Nothilfe zu verlassen und durch kontinuierliche Kooperation die Hilfe nicht zur Abfederung der strukturellen Armut zu gebrauchen. Aus den Nothilfe-Maßnahmen ist ein präventives Projekt entstanden, in dem die Menschen nicht in Not abhängig leben, sondern sich eine neue Existenzgrundlagen geschaffen haben. Um dieses in Nikaragua viel diskutierte Projekt zu sichern, das letztlich deutlich gemacht hat, wie akut die Landfrage ist, bedarf es jedoch einer mehrjährigen Unterstützung von außen. Ohne ein Netz von Unterstützern, die sich für den Fortgang des Projekts auch dann noch interessieren, wenn die Fernsehkameras abgezogen sind, ist dies nicht zu gewährleisten.Damit steht jede kritische Nothilfe vor einem komplexen Problem. Sie bedarf einer unabhängigen Öffentlichkeit, um solche Projekte wie El Tanque durchzuführen. Nur eine solche Öffentlichkeit kann Hilfe sichern, die jenseits medialer Großereignisse und politischer Interessen von staatlichen und supranationalen Geberstrukturen Kontinuität gewährleistet. Diese Öffentlichkeit zu finden oder sie zu konstituieren, ist allerdings eine Herausforderung, die NGOs - so professionell sie auch sein mögen - erst noch meistern müssen.Bisherige Beiträge:Ausgabe 43: ParlamentarierAusgabe 43: Schön, wenn Kapitalparteien "erschöpft" wärenAusgabe 44: Locker bleiben!Ausgabe 46: Des Parteiengesetzes streichen Bündnis 90/Die GrünenAusgabe 47: Des Parteiengesetzes streichen Bündnis 90/Die GrünenAusgabe 48: FraktionszwangAusgabe 48: Fraktionszwang und GeschlossenheitAusgabe 50: Die Verhältnisse schreien nach VeränderungAusgabe 50: Absturz statt HöhenflugAusgabe 51: StandbeinsucheAusgabe 03: Der Staat und die ZivilgesellschaftAusgabe 03: Gewähren und entziehenAusgabe 04: Womit die Nichtregierungsorganisationen regierenAusgabe 05: Eine neue GesellschaftAusgabe 06: Hilfe aus dem NordenAusgabe 07: Verhaltenskodex - ein schillerndes InstrumentAusgabe 07: NGO ist ein Arbeitsstil - und immer falschAusgabe 08: Realitätssüchtige AlltagspolitikAusgabe 08: Selbstschutz gegen KungelneigungAusgabe 08: Die globale Kooperationsgemeinschaft
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