Na, wie geht es uns heute? Wir sind verunsichert, weil die Klinikärzte streiken. Der Marburger Bund hat mit Streikausweitung während der Fußball-WM gedroht; 700 weitere kommunale Kliniken drohen mit Ausstand. Ballacks Wade wird gut versorgt. Aber was tun, wenn uns Zaungästen mal was auf den Magen schlägt? Die Debatte um die Gesundheitsreform beispielsweise. Die Großwetterlage ist ungesund frostig. Die Medizin überfordert uns. Wir vermissen die alte Fürsorglichkeit. Und flüchten uns in Wunschprojektionen. So wäre zu erklären, warum die Ärztedichte von ARD bis Vox so hoch ist und wir sie nicht im Gegenzug boykottieren.
Die Streikenden haben ihre Lage gut kommuniziert. Bei 80 Wochenstunden kann man ihnen Faulheit nicht nachsagen. Und
agen. Und einen müden Chirurg will keiner. Einleuchtend. Aber der Protest der Ärzte kann möglicherweise auch aus einem anderen Grund mit Langmut in der Bevölkerung rechnen. Nicht der Neid auf ungerechtfertigtes Sozialprestige prägt vielleicht unsere Haltung dem Berufsstand gegenüber, sondern, dass er seit Fernsehgedenken zum weißstrahlenden Heiland oder mindestens besorgten Trostspender stilisiert wird.Ob niedergelassen oder in der Klinik, das Bild des Medizinmannes (und seiner Kollegin) im Massenreferenzmedium ist vielfältig. Unterm Strich ist es vor allem: positiv. Schwarze Schafe, wie der drogenkranke oder zynische Doc, schaffen allenfalls Fallhöhe. (Meist wird er entschuldigt durch versteckte Wunden oder seinen im Grunde weichen Kern.)So erschütternd die privaten Dramen, so schlecht die sozialen Verhältnisse, so funktionsuntüchtig das Gesundheitssystem dargestellt sein mögen, im Fernsehen stehen dem leidenschaftliche Ärzte gegenüber. Buchstäblich rund um die Uhr. Egal wie müde und unterbezahlt sie sind, die Patienten können sich auf sie verlassen. Und wenn der gute Doktor einmal wirklich nicht mehr weiter weiß (obwohl er sich tagelang intensiv damit beschäftigt hat), dann konsultiert er sicher einen brillanten Kollegen. Es ist immer einer zu finden, und er lässt sich überreden. Im Notfall gratis. Himmlisch. Unrealistisch. Doch wer glaubte nicht gerne solange es geht, dass Medizin so funktioniert?Damit die Fiktion funktioniert, müssen die Protagonisten glaubwürdig sein. Das heißt nicht, siehe oben, dass sie echt sind; aber es bedeutet, um als möglichst authentisch durchzugehen, müssen sie ihren Zuschauern ausreichend Identifikationsangebote machen. So schwer ist das nicht. Denn es verlangt den Laien nicht nach nachprüfbarem Fachwissen. Angioplastie oder Bypass - wie sollte er das überprüfen? Wenn die Form gewahrt ist, dann glaubt der potentielle Patient vor dem Fernseher gerne. Wichtig ist, der Doktor muss ein good guy sein, nach Möglichkeit sympathisch - engagiert auf jeden Fall.Das war schon zu Zeiten der Ahnen so. Mit bis zu 80 Prozent Marktanteil brach die Epidemie 1985 im deutschen TV heftig aus. Bis 1989 sorgte die ZDF-Schwarzwaldklinik für Herzgeräusche vor Heimatfilmkulisse in schönster Groschenromantradition. Es dauerte ein bisschen, bis andere Sender Symptome zeigten. Für eine Weile gehörte die Kittelbranche dann den einfühlsamen Kleinstadtgynäkologen und dem Kiezarzt vom Bülowbogen.Dann kam aus den USA Emergency Room (Pro7) und revolutionierte, weil professionalisierte, das Feld. Schluss mit hausbackenem Kitsch, Zoom auf die Realität. Krankenhaus-Illusion war nie wahrhaftiger (so wollte es Autor Michael Crichton, der seine eigene Assistenzarztzeit verarbeitete). Hier ist die Luft jargonverseucht und die Dosierungen stimmen. Vom verstauchten Finger zum geöffneten Thorax ist alles zu sehen. In den Statistenrollen sogar: echtes medizinisches Personal. Um sicherzugehen, dass der falsche Doktor zur richtigen Zange greift. Die Show braucht solche Detailarbeit, um ihren moralischen Impetus mit Hyperrealismus zu fundieren. Bei aller aufwändigen Kamera-Choreografie ist ER politisch und scheint es ernst zu meinen mit der Gesellschaftskritik - bis hin zu Expeditionen in den Kongo und nach Darfur. Soll sagen, wir sind mehr als Fernsehunterhaltung, wir kämpfen gegen die Missstände, die wir spielen. Nach zwölf Staffeln kreist der Alltag des Notärzteteams noch immer hektisch um alle Arten offener Wunden. Aber die Erschöpfung ist nicht zu verbergen.Pro7 verordnete jugendliche Unbeschwertheit: Grey´s Anatomy. Dass die fünf Thirtysomethings im Seattle Grace Hospital als Assistenzärzte arbeiten, ist letztlich nebensächlich. Es geht um Geschlechtstrieb und Ambition, wie in jeder guten Seifenoper; die Patienten liefern die Stichwörter für coole Auftritte in Chirurgengrün. Die Serie ist Sex and the City auf Station. Medizin nicht für kranke, bedürftige Zuschauer, sondern als hippe Karriereoption für Yuppies.Dann sind da noch die neuen Urängste vor A-, B- und C-Waffen - auch sie werden mit der nötigen Therapie bedient. Wo die Polizei allein nicht mehr klarkommt ("Ist das Anthrax, Doc?"), springen die Antibazillenterror-Spezialisten von Medical Investigation bei. Das Ergebnis: Action!-Medizin à la 24, garantiert konstant hoher Adrenalinspiegel. Der (besiegbare) Gegner Krankheit wird zur Staatsaktion.Dr. House (RTL) ist kein solcher Superheld - er hinkt, flucht und Menschen interessieren ihn nicht. Ein Wunderheiler ist er doch. Mit seinem absurd multivalenten Team wird jede noch so paradoxe Symptomatik enträtselt. Heilung folgt. Das macht auch einen bekennenden Misanthropen beliebt. Um Beliebtheit, wie gesagt, geht es. Die abrupte Absetzung der scharfen Schönheitschirurgen-Satire Nip/Tuck (Pro7) zeigt das: Ihre Zeitdiagnose war schon treffend. Bloß weit und breit kein Sympathieträger, uns die bittre Pille schmackhaft zu machen.Lassen wir also nur den guten Doktor gelten? Den, den es (nur noch) im Fernsehen gibt - ausgeruht, kompetent, mit viel Zeit, sich um uns zu kümmern? Der uns In aller Freundschaft mit dem Leiden versöhnt (wie die MDR-Serie Ost- mit Westfernsehen)? Wir werden kränker und älter und davon mehr. Und wir hoffen mit den streikenden Klinikärzten, dass die Situation der Fiktion ähnlicher wird.