Was machen die Traumgeschöpfe, wenn sie keiner träumt? Der schwule Friseur Jimmy hofft verzweifelt auf ein Wiedersehen mit Mitchell, den er im homophoben Traum eines US-Generals beinah geküsst hätte - als der verstarb. Und Jimmy wartet im Zwischenreich. Die Schauspielerin, die ihn fünfzehn Jahre später weiter träumt, entspricht nicht seinen Wünschen. Ja Jimmy, créature de rêve hat eigene Träume. Marie Brassard teilt sie mit uns. Mit elektronisch verzerrter Stimme, in Anzug und Krawatte über der entblößten Brust erzählt sie aus ihrem Paralleluniversum. Gebeutelt von den ungeliebten Konstruktionen, verwandelt gegen ihren Willen, erstaunt von der Unlogik fremder Hirngespinste. Ein (Bühnen-)Traum sehnt sich nach Freiheit. Subtext an die Adresse des Publikums? Brassard spinnt uns mit Worten in ihre Geschichte ein. Die Kanadierin hat ihr Verhältnis zu uns gefunden. Andere ringen (noch immer) darum.
Wie sie das tun, hat sich Tilman Broszat, Kurator des biennalen Münchner Theaterfestivals SpielArt gefragt. Wie geht das zeitgenössische Theater mit dem Zuschauer um? Bekommt der, was er will? Die "Verführer und Spieler", die Broszat diesmal eingeladen hat, versuchen von Becircen bis Brüskieren ihr Möglichstes, uns nahe zu kommen. Theater als Auster zu betreiben, verschlossen und geizig mit dem kostbaren Inhalt, will sich in Zeiten mächtiger Unterhaltungsindustrien kaum noch ein Künstler leisten. Ein Zwiespalt bleibt, man will sich nicht bloß verkaufen. So werden wir umgarnt, gefüttert, angepöbelt, übertölpelt, weg gezaubert, oder manchmal - schade - nur ignoriert. Das aber selten absichtlich.
Tim Etchells britische Gardetruppe Forced Entertainment nahm die Festivalfrage direkt auf. First Night verhedderte sich mutwillig bis zum Stillstand in das ambivalente Verhältnis von Zuschauererwartung und Performance(verweigerung). Mehr Zwang als Unterhaltung für alle Beteiligten. Wir werden Zeugen, wie hysterische Herren in Karotweed und Damen in überdehnten Paillettenfummeln längst ausgehängte Türen einrennen, also stolpern und quälend langsam auf einer Endlosschleife kriechen. Betont unwitzig. Ostentativ dilettantisch. Und hässlich! Knalltürkise Lidschattengewächse weissagen fürsorglich Todesursachen ("Sie da - Brustkrebs") und leiern Katastrophenlisten auf rundum rot versamteter Bühne. Anstrengende Arbeit ist das, abzulesen am monströsen Kampfgrinsen. "Willkommen, Bienvenue, Welcome!" im Quatschclub.
Gelegenheit zur Selbstreflexion: Was wollen wir? Ablenkung, Tempo, seichten Konsum, Glamour, viel Frauenbein, Wettkampf? Einfühlung in unsere Ängste und Sorgen - und Liebe? Wir haben bezahlt, wir werden geholfen. Die Show ist - weniger als früher - amüsant, der Humor ist - von ganz unten - zugänglich, denn zu blöd kennen die Gags nicht. Zur Provokation reicht´s nicht, zu Mitleid schon. Ist es geistreich, das Publikum vorsätzlich einzuschläfern?
Während Live Art aus England an der Form würgt, ergeht sich Live Art aus Berlin darin. Putzig und süß, wie sie nun mal sind, riefen Nico and the Navigators Freudengluckser hervor. Ihr buntes Formeltheater variiert in Bauhaus-inspirierten Kulissen überzeichnete Alltagsbits und erwirbt ihnen damit Skurrilität. Das sieht aus wie Tati kauft bei Humana und verabschiedet Hitchcock-Vögel ausgestopft im komplementärfarbenen Tanztheater. Oder wie Turnstunde an der Adventskalender-Kletterwand. Oder sie schneiden körperlich ungerührt Keaton-Gesichter. Absurder Text zieht lakonisch Kondensstreifen sichtlich philosophierender Gedankenflüge ("Stimmen Sie für den Horizont!") Nichts wird "vergleichsweise vorübergehend bewerkstelligt". Manche Berliner können Humana, den Mitte-Stil und die Live Art Puzzle-Bilder nicht mehr sehen. In München gibt es offenbar Nachholbedarf.
Gut so, denn Programmfülle und -vielfalt fordern persönliches Engagement. Auf einer "Premierenfeier ohne Premiere" müssen wir erleben, was nach dem Theater gespielt wird. Die SpielArt-Eigenproduktion der Münchner Regisseurin Eva Diamantstein bittet in Nachtmahl zu Tisch mit viermal weiblicher NS-Vergangenheit, wir werden Mitesser bei einer zusehends gruseligeren Selbstentlarvung. Ein Familienschlachtfest nach Visconti von Zuidelijk Toneel Hollandia malt Historie opulent mit Brechung und Ekstase, bleibt aber auf der Bühne. Wie Jérôme Bels The Show must go on, das zwar intellektuellen Spaß mit der Theaterkonvention treibt, sie aber - bewahre! - nicht aufheben will. Für Bel ist der Platz des Zuschauers der Zuschauerraum.
Eben den schaffen Hygiene Heute ab. Ihr Walkman-Krimi-Hörspiel Kanal Kirchner konzipiert eine Stadtwanderung als Tatortbegehung. Allein mit Knopf im Ohr folgt man einer eindringlichen Stimme auf dem Gruselparcours durch ein feindliches Spuk-München, dessen harmloseste Facetten (Spielplätze, Trafos, Kapellen, Konzertsaalfoyer) als Teil einer mächtigen Verschwörung "enttarnt" werden. Lektionen über mediale Gehirnwäsche und Grinsimplantate auf der fremdgeleiteten Suche nach dem verschwundenen Bruno Kirchner. Simples Prinzip. In stockfinstren, engen Parkhausnotgängen, orientierungslos - "Wir haben noch Luft für zwei Minuten. Beeil dich!" -, nützt das nichts. Zurück an der Oberfläche will man das düstere Band schleunigst los werden und nicht wissen, wer da geschrieen hat.
Im Vergleich zu Serge Denoncourts Tschechow-Möwe ist so ein Experiment absolut radikal. Der tote Vogel aus Québec riecht nach Mottenpulver. Zwischen die klassisch deklamierten Originalszenen schiebt der Regisseur Debattenpartikel und Rollenzweifel (dem Probenprozess entnommen). Hier fällt das Théâtre de l´Opsis aus der spitzlippigen Hochsprache ins Joual, die québéquoise Mundart mit dem rebellischen Proletenruch. Grundprinzip der Inszenierung ist das sich selbst umkreisende Theater. Sechs Personen suchen sich. Arkadina? "Ich kann sie nicht leiden." Trigorin? "Er ist nicht feige!" Sie spielen ernst und meinen es. Nirgends setzt Ironie der präzisen Hausaufgabe ein Glanzlicht auf. Eine elegische Stagnation in schummrigem Ambiente. Viel reden, nichts tun - darin hat Denoncourt Gemeinsamkeit mit Tschechow entdeckt. Warum sie nicht inszenatorisch nach Kanada holen, anstatt sie à la Comédie Française anzubeten? Ha! Das hätten sie getan. Nur, wir sehen, Tellerrandproblem, von der lokalen Wirkung nichts. Kontextualisierende Vorab-Erklärungen wirken - halt nur erklärend. Keine mildernden Umstände für Altbekanntes seitens des Publikums.
Anderntags will es wieder Verständnisbrücken. Oskaras Kors?unovas, dessen Sommernachtstraum überall ankommt (schon weil das Stück bekannt ist), stößt mit einer polnischen Bruno Schulz-Adaption auf Unkenntnis - trotz Expressivität. Seine Inszenierungen bedienen sich bei der Stummfilmkomik und bei Kafka. Pantomime, Akrobatik, Tanz und Varietétricks bauen den Text in Richtung Körpertheater aus. (Ein klarer Reisevorteil für den Litauer.) Reiches Geräuschfutter betört die Ohren. Schulz steckt im Detail. Vorwitzige Frauenzimmer, Kindheitsplunder, verzauberte Objekte, klirrendes Glas und flackernde Begegnungen mit Erinnerungsschatten. Uns Unbedarften bleibt Jakubs fantastische Zeitreise zum Sanatorium unter der Sanduhr dunkel. Man sieht, ahnend, einen balgenden, wallenden, zirpenden, flüsternden Haufen von Assoziationen. Kors?unovas und der polnische Dichter treffen sich im osteuropäischen Bilderbuch - wir bleiben draußen. Es ist ja nicht Schulz´ Fehler, dass Galiziens mystische chassidische Kultur in der Geschichte versunken ist. Und das Tadeusz Kantor längst tot ist. Aber Theater ist auch Rezeption und braucht dafür die Zuschauer. Weil die scheinbar unverdrossen vom Theater träumen, waren die 22 Inszenierungen aus 14 Ländern zwei Wochen lang proppenvoll.
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