Das Andere wohnt hier niemals

Medientagebuch Wie Dokusoaps eine Realität zeigen, die sie selbst inszenieren - inklusive aller Ressentiments

Vergangene Woche waren sich Bild am Sonntag und Spiegel Online überraschend einig. "Hetz-Fernsehen von bislang unbekannter Dimension" nannte erstere die neue RTL2-Dokusoap Willkommen in der Nachbarschaft; "noch schlimmer als befürchtet", urteilte SpOn. "Die Brandstifter von RTL2 erniedrigen Menschen zu Klischees ihrer selbst und versuchen, mit dumpfem Rassismus Quote zu machen", hieß es weiter. Da mögen zwar zwei ausgewiesene Glashausinsassen mit Steinen werfen, doch tatsächlich scheint die Sendung ein vorläufiger Höhepunkt des Echte-Menschen-TV. Fünf Familien bewerben sich um ein Haus, je eine Woche wohnen sie zur Probe, danach entscheidet die Nachbarschaft, wen sie in ihre Mitte aufnehmen wird. Das wäre wohl keiner Aufregung wert, erfolgte die skandallüsterne Auswahl der Teilnehmer nicht als derart offensive Diskriminierung nach derart a-sozialen Kriterien: In der ersten Woche bewirbt sich ein bigamer Schwarzer mit Frauen und Kindern um das Haus, in der zweiten Woche ein transsexuelles Pärchen, dann eine palästinensische Großfamilie und so weiter und so fort. Eine Chance, diese Menschen kennen zu lernen, hat der Zuschauer naturgemäß nicht, da alle von Anfang an auf eine Eigenschaft - "die Klatschbasen" oder "Mama Afrika" - eingedampft sind und reaktionäre Sprüche - "Das haut den stärksten Neger um" - den Ablauf konturieren. Das ethnische, sexuelle oder religiöse Andere wird in Willkommen in der Nachbarschaft nur repräsentiert, um es durchgehend als solches zu denunzieren. So dreist hat wohl noch nie eine Reality-Sendung selbst unternommen, was man bislang noch den Darstellern überließ.

Wo immer im deutschen Fernsehen Frauen getauscht, Jugendliche in Container gesteckt und andere Ausnahmesituationen inszeniert wurden, fielen oft genug Sätze, die sich kein Spielfilm ähnlich unreflektiert hätte je erlauben können. Die Dokusoap darf das, weil der Zuschauer - so abgeklärt er sich hinsichtlich der Fiktionalität des Medialen auch gibt - dennoch und weiterhin trennt zwischen dem Als-Ob und dem, was man als "echt" begreift. Obwohl da eigentlich kein Unterschied auszumachen ist: Zwar sind die Dokusoap-Teilnehmer alle echte Menschen, nur würden all diese echten Menschen all das, was sie da tun, nicht tun, wenn nicht die Kamera und das zugehörige Team den Anlass dazu gegeben hätte. Und dennoch können sich die Macher - als wären sie rein bürokratische Verwalter der Wirklichkeit - stets auf jenen Satz zurückziehen, den John Cusack als Auftragskiller in dem Film Grosse Pointe Blank immer sagt, bevor er abdrückt: "Das kommt nicht von mir."

Die Krise des Dokumentarischen - dass mehr und mehr Autoren vorher schon wissen, was nachher erzählt sein wird - zeigt sich deshalb nirgends so deutlich wie in der Dokusoap, wo das Kolportieren erwünscht und offiziell erlaubt ist. Man darf getrost davon ausgehen, dass jeder Dokusoap-Regisseur zuvor strikter festlegt, was zu passieren hat, als sein Spielfilm-Kollege. Wer den Tunnelblick hat, der benötigt kein Drehbuch. Mittlerweile ist die Ignoranz gegenüber der Realität bei den Produzenten allerdings so weit fortgeschritten, dass die Autorenschaft ihrer Eingriffe ins "nur Abgefilmte" sich so weit konkretisiert hat, dass sie wirklich bald justiziabel werden könnte. Weil sie sich nicht mehr allein als Technik (Schnitt und Kameraführung) manifestiert, sondern sich ganz unverblümt und umstandslos ausspricht. Die Macher der Serie interessieren sich nicht für die Bilder, sondern veranstalten lieber einen grotesken Wettbewerb, in dem sie sich mittels Untertitelung und Off-Text gegenseitig in Ausfälligkeit und Demütigung zu übertreffen suchen - wobei sie hörbar und sichtlich Anderes erzählen als die Menschen vor der Kamera. Es ist gruselig mit anzusehen, was in den betreffenden Redaktionen gerade als gute Unterhaltung gilt. Und wie blind man zugleich dafür ist, wie ausführlich das de facto die eigene ideologische Aus- und Abrichtung erklärt.

Ungefährlich ist dieses Gebaren nicht, denn Medien wohnt die Fähigkeit inne, den Blick zu verzerren, zu verstellen und zu paranoisieren. Regelmäßig ergeben Studien, dass Menschen die Gefahr, die ihnen hier und da (vor allem von dem "Anderen") droht, deutlich überschätzen. Medien sind in diesem Punkt infektiös, gerade in einer Gesellschaft, die in hohem Maße auf sie angewiesen ist und sich als derart "prekär" begreift wie die unsere. Diffuse Ängste sind weit verbreitet, es werden Verschwörungstheorien lanciert, von denen man dachte, sie wären längst ausgestorben. Wenn eine Sendung diesen Strömungen nicht nur das Wort erteilt, sondern ihnen zudem das Wort redet, dann hat das mit "Doku" nur mehr wenig zu tun. Mit schmieriger Volksverhetzung dafür um so mehr.


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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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