Das Gedächntnis ist unerbittlich

Netzdaten Fabelhaft: Das Internet lernt endlich die Vergänglichkeit kennen. Es muss künftig vergessen können.

Warum Sie nicht mehr finden, was Sie suchen“, lautet die Überschrift einer Meldung der ARD. Darin wird zunächst das World Wide Web zur „universellen Bi­bliothek“ hochgelobt und nach der so gewonnenen Fallhöhe die eigene Misere umso bitterer beklagt: Der 12. Rundfunk­änderungsstaatsvertrag sieht vor, dass künftig wenige Inhalte dauerhaft in den öffentlich-rechtlichen Media­theken auf Abruf bereit stehen dürfen. Man macht sich nun ans Löschen.

So fürchterlich das viele finden: Das liegt im Trend. Jenseits dessen, dass eine zwei Jahre alte Sportschau für die Wenigsten von Interesse sein dürfte und die ARD vermutlich mehr den bürokratischen Aufwand als den Verlust einer wie auch immer gearteten „Online-Volkshochschule“ fürchtet, will man dem scheinbar unbegrenzten Archiv namens Internet gerade das Vergessen andichten. Schon fordert der Bundesinnenminister Thomas de Maizière den „digitalen Radiergummi“. Schon erscheinen Bücher, die der totalen Verfügbarkeit die eigene Unverfügbarkeit entgegen setzen und sich Ohne Netz oder Ich bin dann mal offline nennen. Und schon tüfteln an der Universität Saarbrücken ein paar Informatiker an einem Programm, das Dateien mit Verfallsdaten versehen kann. So wollen sie dem Internet etwas beibringen, das dessem Prinzip geradezu fundamental widerspricht: Es soll sich nicht mehr so gnadenlos an alles erinnern können; soll Bekanntschaft mit der Vergänglichkeit machen.

Das unerbittliche Gedächtnis heißt eine Erzählung von Jorge Luis Borges, die von einem Jungen handelt, den man früher den „chronometrischen ­Funes“ nannte, weil er die Uhrzeit stets genau zu sagen wusste, ohne auf ein Ziffernblatt zu sehen. Nach einem Reitunfall versiegt diese Fähigkeit, auch laufen kann der 19-Jährige nicht mehr. Stattdessen erwächst ihm ein absolutes Gedächtnis, er erinnert sich an jede einzelne Wahrnehmung seines Lebens – und versenkt sich in die Unordnung all dieser Momentaufnahmen. „Ich vermute allerdings“, merkt der Erzähler am Ende an, „dass er zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art.“

So fantastisch die Idee eines Menschen, der durch einen Sturz vom hohen Ross zum lebendigen Archiv mutiert – man nennt Borges einen „magischen Realisten“ –, so märchenhaft erscheint ein digitaler Speicher, der durch die menschliche Tugend des Vergessens auf sich aufmerksam machen soll. Das Web kennt das stückweise Verlorengehen und langsame Verwittern ja nicht, kennt nur den funktionierenden oder den kaputten Link, nur An- oder Abwesenheit, mit anderen Worten: Es kennt eigentlich keine Geschichte. Und kann die produktiven Irrtümer des Analogen kaum nachvollziehen, die dafür verantwortlich sind, dass man oft gerade nicht findet, was man sucht, sondern sein Palimpsest, ein Bruchstück oder einen leeren Rahmen in Händen hält; etwas jedenfalls, das von dem Vergehen der Zeit erzählen kann.

Doch zurück zur ARD: Laut Verweildauerkonzept soll manches dann doch für unbegrenzte Zeit in den Mediatheken weiter existieren; Formate, die für kultur- oder zeitgeschichtlich wertvoll erachtet werden. So schleicht sich die Rede von der Historie gleichsam hintenherum ins WWW zurück.



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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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