Der Dativ ist dem Nominativ sein Tod

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Den Untertitel Eine Liebeserklärung, den Günter Grass seinem neuen Buch Grimms Wörter gegeben hat, kann man schon ein bisschen dreist finden. Denn zu einem nicht gerade geringen Teil handelt dieser Grass-Groß-Essay von Grass selbst, da die Gebrüder Grimm und deren Arbeit am Wörterbuch ihm immer wieder Anlass sind, aufs eigene Leben und die eigenen Taten zu sprechen zu kommen. Bei B wie Brief etwa: Auch er habe ja eine Reihe Briefe, darunter auch einige „Offene“ „aus politischen Beweggründen“, geschrieben, gesteht er da und erinnert sogleich eifrig daran („um nur aus zweien zu zitieren“).

Der bisherige Höhepunkt dieser Selbstbeleuchtung – zumindest soweit meine Lektüre bislang gediehen ist (Seite 83) – ist die kaum verkappte Behauptung, Willy Brandt wäre nur oder vor allem oder wenigstens unter anderem deshalb Kanzler geworden, weil ihm von keinem Geringeren als Günter Grass beigebracht worden sei, „Ich“ zu sagen. Was Grass sogar die Anerkennung von dem eigentlich skeptischen Egon Bahr eingetragen habe.

Dass Grass keine Schwierigkeiten damit hat, „Ich“ zu sagen, ist an sich nichts Neues und überhaupt nicht verwerflich, und so tut er es eben auch in dem Buch Grimms Wörter. Allerdings sagt er gar nicht so oft „Ich“, wie man meinen könnte: bis Seite 40 gerade einmal 30 Mal, wie meine Zählungen ergeben haben. Stattdessen rückt der Dativ dieses Wörtchens in den Vordergrund. Und das ist freilich ganz geschickt gemacht: So setzt man nicht sich an die Stelle des vermeintlich machtvollen Subjekts, sondern macht sich selbst zum Objekt. Zu wessen Objekt? Natürlich zum Objekt des Schicksals, das die Grimms und den Grass unweigerlich einander in die Arme treibt: „Oft suchten sie Ausgleich in der Natur, weshalb sie mir (…) begegnen werden“, heißt es auf Seite 12, auf Seite 13 wird ausgeführt, „wie sie mir (…) in den Blick geraten“ und „sie mir nahe gerückt“ sind. Und so geht das weiter.

Soll heißen: Um Günter Grass geht es hier nur, so bedeutet es diese grammatische Konstruktion, weil´s eben sein muss, da es den beiden Grimms im Grunde damals ja auch im Grunde (fast) immer schon – und sei´s eben unbewusst – um Grass gegangen ist, gleichsam in vorausahnendem Gehorsam. Und das ist dann doch um einiges unsympathischer, als wenn der Autor einfach fromm und frei und ohne Unterlass „Ich“ sagen würde. Was wiederum recht schade ist, denn Grimms Wörter (aka Grass´ Wörter) ist ein Buch, das die Leben der beiden Wörtersammler nicht nur auf schön verschlenkerte und pointierte Weise (einige werden´s deshalb vermutlich als „Kunsthandwerk“ schmähen) nacherzählt, sondern diese Leben auch in Verbindung mit ihrer Zeit und ihren Zeitgenossen zu setzen weiß. Dass Günter Grass sich per Dativ-Egozentrik selbst unter die Letzteren mischt, ist vielleicht noch verständlich. Mir widerstrebt es allerdings, wenn ich in einem Buch viel mehr über die psychische Architektur eines Menschen erfahre als über das Wollen und den Anspruch des Autors. Und das ist in Grimms Wörter leider viel zu oft der Fall.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden