Wenn die Auflagen der deutschen Programmzeitschriften weiter so konstant und konsequent sinken wie in den vergangenen Jahren, dann sind sie in zehn, spätestens 15 Jahren als ausgestorbene Gattung zu verbuchen. Zwar ist dieses Segment des Zeitschriftenmarkts dank einer Gesamtauflage von etwa 17 Millionen Exemplaren zweifellos eines der eindrucksvollsten. Doch statt mit Qualität wird mit Billigpreisen um Anteile gekämpft: Kein anderes Hochglanzmagazin kostet so wenig wie ein TV-Programmheft, nirgendwo anders herrscht eine vergleichbare gestalterische wie intellektuelle Uniformität.
Weder die Käufer noch die Macher scheinen also daran zu glauben, dass sich ein ernsthaftes Engagement in diesem Bereich lohnen könnte. Doch ist diese Krise weniger hausgemacht als vielmehr eine gleichsam natürliche Folge davon, dass Fernsehen nicht mehr das ist, was man früher einmal darunter verstanden hat. Für viele Menschen ist der Text von Nina Hagens Lied Ich glotz’ TV schon heute schlicht und einfach unverständlich. Der Seufzer „Allein! Die Welt hat mich vergessen. Ich hänge rum!“ ist für sie kein Grund, den Fernseher einzuschalten, sondern sich vor den Computer zu setzen. Da läuft nämlich auch immer was und man fühlt sich nie allein.
Statt von TV Movie, TV Spielfilm, TV Digital oder der Funk Uhr kommen die Programmtipps von Freunden und Bekannten, die auf Facebook oder StudiVZ Musikvideos, Youtube-Spots beziehungsweise die neueste Folge dieser oder jener Doku-Soap per Link empfehlen. Oder man klickt bei RTLnow, VOXnow, den Videocentern von Sat.1 und ProSieben oder den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender vorbei. Außerdem steckt die DVD mit der neuesten Staffel der Lieblingsserie im Player, und die jüngste Ausgabe der Tagesschau ist gerade aufs Handy geladen.
Freiheit von der Quote
Die Tätigkeit des Fernsehens – wenn man diese Art der Rezeption denn noch so nennen möchte – entwächst gerade ihrer Verpflichtung auf die passive Grundhaltung, deren einzige Aktivität im Umschalten besteht. Der Zuschauer emanzipiert sich zusehends von fixen Terminen – oder hätte zumindest die Möglichkeit dazu. Das Meckern übers schlechte Programm dürfte sich mithin bald selbst ad absurdum führen, denn so souverän über das Was, das Wann und das Wie beim Fernsehen konnte das Publikum bislang noch nie verfügen. Die Öffentlichkeit zerstreut sich nicht mehr nur im Raum, sondern auch in der Zeit, da jeder sich sein individuelles Programm zusammenstellen kann. Passé sind die festen Uhrzeiten, zu denen sich von der Oma bis zum Enkel einst alle vor den synchron in allen Wohnzimmern flimmernden Bildschirm versammelten. Wetten, dass…? bietet heute vielleicht noch Gesprächsstoff für Medienkritiker, aber keinen mehr für den Pausenhof am Montagvormittag. Die so genannten „digital natives“, die mit Computer und Internet Großgewordenen, haben längst begriffen, dass man nichts sehen muss, was man nicht sehen will.
Das neue Fernsehen ist nicht mehr auf die familiäre – und das heißt: bürgerliche, den Staat im trauten Heim vertretende – Gemeinschaftlichkeit verpflichtet (was nicht bedeutet, dass diese nicht gesucht wird), es wird anders programmiert: durch soziale Netzwerke, durch bewusste Entscheidungen, durch Online-Verfügbarkeit, für die manche sogar gerne bezahlen. RTL etwa bietet auf seiner Plattform rtlnow.de eine Reihe von Seifenopern, US-Serien und anderen Formaten zum kostenpflichtigen Einzelabruf oder als Abonnement an, entweder als Vorschau vor der offiziellen TV-Ausstrahlung oder, ähnlich einem Archiv, zur späteren Sichtung. Ein Angebot, das überraschend guten Anklang findet, für Quotenmessung jedoch keine Rolle spielt: Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) registriert zwar mittlerweile, wenn in den von ihnen ausgewählten Beispiel-Haushalten zeitversetzt gesehen wird, Onlineabrufe aber kommen in der Einschaltquote nicht vor. Was man ihr nicht einmal vorwerfen kann: Wer im Internet fernsieht, den kann die GfK getrost ignorieren, da er sich in den meisten Fällen die unterbrechende Werbung und das „Wird Ihnen präsentiert von…“ erspart.
Revolution ohne Barrikaden
Stehen also wunderbare Zeiten ins öffentlich-rechtliche Haus, da niemand ähnlich gute finanzielle Voraussetzungen hat, mit den werbefreien Programmen des Internet mitzuhalten? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht: Das EU-Wettbewerbsrecht ist von den Onlineaktivitäten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wenig begeistert, und die GEZ-Gebühr hängt noch immer so sehr am real existierenden Gerät, dass die Art ihres Fortlebens in digitalen Zeiten alles andere als klar ist. Wirft man noch einen Blick auf die Historie der Kommunikation, dann finden sich auch da genügend Hinweise dafür, dass der Staatsfunk am Ende mit leeren Händen dastehen könnte, wenn er sich nicht bald auf andere Weise als mittels GEZ legitimiert.
Die Technik hat sich schließlich schon immer gerne gegen den gewendet, der sie ursprünglich ins Recht gesetzt hatte – das Internet, diese militärische Erfindung, die sich der staatlichen Kontrolle heute wie kaum eine andere zu entziehen weiß, ist dafür nur das aktuell beste Beispiel. Für manche Revolutionen braucht es eben keine Barrikaden, sondern es genügen Funksignale und Glasfaserkabel.
Womöglich erlangt der Zuschauer also nach der Souveränität über seine Fernseh-Zeit, auch bald diejenige über seine Fernseh-Ausgaben. Geschäftsfähigkeit nennt das Bürgerliche Gesetzbuch diesen Zustand, üblicherweise tritt sie mit 14 Jahren in Kraft. Bis Vater ZDF und Mutter ARD, Tante Arte und Onkel 3Sat sich endlich trauen, uns ganz allein entscheiden zu lassen, wofür wir unser Geld verwenden (sicher nicht für Programmzeitschriften, denn wir haben Freunde) und was gut für uns ist (und sei es noch so schlecht), bis zur unserer Volljährigkeit also wird es wohl noch länger als vier Jahre dauern.
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