Die Black Box der Presse

Medien Wenig zu wissen, bedeutet für die Presse viel zu schreiben. Wie die Nachrichtenorgane den Absturz der Air France Maschine bewältigen

Paul-Louis Arslanian, der Direktor des Bureau d'Enquêtes et d'Analyses, der den Absturz des Airbus' zu untersuchen hat, ahnte wohl, dass er auf taube Ohren stoßen würde. Sonst hätte er nicht gar so inständig an die Journalisten appelliert: "Wir wissen noch nicht einmal die Zeit des Absturzes. Ich bitte Sie erneut: Versuchen wir nicht zu erraten, was passiert ist."

Wie erwartet, verhallten seine Worte ungehört. Seit Montagmittag versuchen irgendwie alle zu erraten, was passiert ist. In in der Presse werden reihenweise Experten bemüht, in Leserkommentaren Bomben- oder gar UFO-Theorien lanciert.

Auf einen Blitzschlag deutete die Fluggesellschaft Air France, doch sogleich fand sich ein Kundiger, dem das nicht einleuchten wollte. Aktuell heißt es, die Maschine habe das falsche Tempo gehabt und sei deshalb abgestürzt – was von nicht Wenigen angezweifelt wird.

Die Medien wissen also, dass sie gar nichts wissen, aber sie schweigen nicht. Sie türmen Informationen über Informationen, um diesem unangenehmen Gefühl Herr zu werden. Dabei sind selbst vermeintliche Eindeutigkeiten ziemlich mehrdeutig, und so wissen auch die Leser bald, dass sie im Grunde gar nichts wissen. Die Auskunft versprechende – und laut diverser Luftfahrtexperten: orangefarbene – Black Box ist ohnehin verschollen, und zwar im Atlantik, der an dieser Stelle "Tausende Meter" (tagesschau.de) bzw. "etwa 3.000 Meter" (Welt Online) bzw. "bis zu 4.000 Meter" (Netzeitung.de) bzw. "bis 4.000 Meter!" (bild.de) bzw. "bis zu 4.700 Meter" (Spiegel Online) tief ist.

Ein unerhörtes Ereignis

Auch der massive Einsatz von Grafiken, Meldungen, Interviews, Listen, Videos, Satellitenbildern, Infokästen, Chronologien und so weiter dient vor allem dem Übertünchen der Bodenlosigkeit der bisherigen Erkenntnisse. Die Bild-Zeitung etwa fliegt auf ihrer Website die Route des Flugzeugs per Computeranimation nach und montiert eine 48-teilige Bildstrecke, die neben dem Foto der bislang ergatterten Porträts der Opfer auch eine düstere Illustration enthält: "So stellt sich der BILD-Zeichner die Situation vor, als AF 447 die Gewitterfront durchquerte". Wie sich der BILD-Zeichner die menschlichen Überreste der Insassen vorstellt, bekommt man glücklicherweise nicht zu sehen.

Dass Flug AF 447 buchstäblich von der Bildfläche verschwunden ist, scheint im Medienzeitalter wahrlich ein unerhörtes Ereignis. Es ruft schmerzhaft in Erinnerung, dass auch heutzutage Dinge geschehen, die nicht der einfachen Logik von Ursache und Wirkung gehorchen, sondern zuallererst statistische (Un-)Wahrscheinlichkeiten verwirklichen. So sprechen die einen eben von einem "Unbekannten Flugobjekt" und die anderen vermutlich bald von menschlichem oder technischem Versagen: Damit dieser unglücklichste aller Zufälle wenigstens in irgendwelche Worte gefasst wäre, die sich fortan darüber sagen lassen.

Wie schreibt Robert Musil doch so klug in seinem Roman Mann ohne Eigenschaften, nachdem ein Paar einen Autounfall bemerkt hat: "Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: 'Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.' Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wusste nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, damit dieser grässliche Vorfall in irgendeine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging."

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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