Die Mama ist zur Oma gefahren

Debütroman Andreas Widmann schildert in „Die Glücksparade“, was es im hartnäckigen Hoffen auf Gerechtigkeit bedeutet, erwachsen zu werden

Den Gegenstand, an dem sich die Geschichte entzündet und um den sie sich dreht, benennt Andreas Widmann in Die Glücksparade gleich im ersten Satz: „Alles, was zwischen dem letzten Frühjahr und dem Winter geschah, hat mit dem Container zu tun, weil es damit anfing, zumindest für meine Mutter und mich.“ Dieses Es, das mit dem Container anfing und das der Container figuriert, ist die Initiation des Ich-Erzählers Simon in die Welt seiner Eltern; seine Erkenntnis, was es bedeutet, erwachsen zu werden. Er beginnt zu verstehen, dass Worte und Wahrheit nicht so zusammenpassen, wie er dachte. Das Reden darüber schafft daher Distanz zwischen dem Jahr zuvor und dem Jetzt, da Simon das Geschehen wiedergibt: „Das Seltsame ist, dass es mir vorkommt, als wäre es wirklich schon sehr lange her, sobald ich anfange, davon zu erzählen.“

Der Container steht auf einem Campingplatz, dem neuen Arbeitsplatz von Simons Vater, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt, weil „die heutige Zeit“ ihm nicht passt. Seinen Glauben an Gerechtigkeit, und sei sie nur sozial, hat er dennoch nicht verloren, auch wenn er selbst das nie so ausdrücken würde: „Er sagte, er wollte einen Schnitt machen und sich woanders umschauen. Jetzt war es wieder so weit.“ Also zieht die Familie in den Container auf dem Campingplatz. 29 Quadratmeter, die sich Vater, Mutter, Sohn wie gewohnt schönreden: „Wir nannten die Räume Küche, Bad und Schlafzimmer, obwohl sie das kaum waren. Auch mein Zimmer war kein Zimmer, sondern nur eine Kammer hinter einer dünnen Tür.“

Letzte Hoffnung Camping

Freunde hat Simon ohnehin keine, und so wächst er in eine Gemeinschaft von Campern hinein, die ebenfalls aus kaum Lebenstauglichen besteht, die die Hoffnung nicht aufgeben. Klaus und Petra etwa, deren Tochter Lisa „beim Fernsehen“ ist. Die VHS-Kassetten, auf denen sie die Sendungen aufzeichnen, verleiht Petra gern: „Am unteren Rand des Bilds liefen bunte Schriftzüge von links nach rechts, auf der rechten Seite blinkten Zahlen. ‚Fünfhundert Euro sind zu gewinnen‘, sagte die blonde Frau. ‚Fünfhundert‘, und dabei hielt sie eine Hand mit gespreizten Fingern nach vorn, als drückte sie gegen eine Wand aus Glas. ‚Fünfhundert, die haue ich heute raus. Einfach anrufen und fünfhundert Euro gewinnen.‘“

Der nächste Schritt ihrer Karriere soll Die Glücksparade sein, deren Konzept Lisa so erklärt: Die Kandidaten „müssen Wörter aus verschiedenen Themenbereichen raten, und dabei gibt es so ein Laufband, auf dem kleine Tabletts vorbeifahren, wie beim Sushi. Der, der gewonnen hat, darf eine Haube von so einem Tablett nehmen und schauen, was darunter ist. Aber er weiß es vorher nicht, weil er es ja nicht sehen kann. Jeder kann alles gewinnen. Oder nur einen Trostpreis.“

Trostpreis für den Sieger

Einen treffenderen Titel als Die Glücksparade hätte Andreas Widmann seinem Roman kaum geben können. Ohne es gewollt zu haben, einfach weil er vor 15 Jahren als Sohn dieser Eltern geboren wurde, ist auch Simon längst ein Kandidat der Glücksparade, die sich Leben nennt. Man muss nur möglichst viele Wörter richtig raten, dann darf man unter die Haube schauen – auch wenn dort nur ein Trostpreis wartet.

Mit naiver Lakonie verdichtet Widmann das schüchterne Begreifen des Ich-Erzählers in kleinen Szenen, die von großer Symbolik zehren. Simons Schilderungen seiner Begegnungen mit Campern und Eltern betreten leise das Parkett der Handlung und verlieren schnell an Boden, weil sie vom Widerstand der Sprache gegen die Realität handeln. Als die Mutter sich schließlich aus dem Staub macht, sagt der Vater, sie sei zur Oma gefahren, die habe was am Knie. „Ich nickte, und obwohl ich wusste, dass das, was er mir erzählte, nicht stimmte und dass er sich schämte, mir die Wahrheit zu sagen, merkte ich, dass die Geschichte mit dem Knie eine gute Alternative war, für den Moment zumindest.“ Das nämlich bedeutet Erwachsenwerden: einander anzulügen und zu wissen, dass man das tut. „Die heutige Zeit, von der mein Vater immer sprach, hatte auch für mich begonnen“, endet Widmanns bemerkenswertes Debüt.

Die Glücksparade Andreas Widmann Rowohlt 2012, 220 S., 16,95 €

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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