Was Menschen mit sich machen lassen, um endlich öffentlich wahrgenommen zu werden, kann man täglich um 19 Uhr auf RTL2 mitansehen: Die sechste Staffel des Realityformats Big Brother ist tatsächlich - wie der Sender zuvor unermüdlich versprach - noch härter. Ein Kandidat musste bereits zwei Wochen auf dem "Dorf"-Platz unter freiem Himmel leben; mittlerweile war schon mehrmals ein "Drill-Instructor" da, der die Insassen durch einen militärischen Parcours hetzte, dabei "Respekt und Disziplin" einfordernd; wer nicht stumm folgte, gar Widerworte in den Mund nahm, bekam zu hören: "Witzfigur", "Simulant", "Kotzbrocken". Von der Frage, wie man "draußen ankommt", handeln zahlreiche Gespräche im "Dorf", das bislang noch als Open-End-Projekt verstanden wird. Viele der Kandidaten sind arbeitslos und wollen durch ihren absoluten Gehorsam offenbar potenzielle Arbeitgeber, vor allem Medienmacher, von sich überzeugen.
Den Traum von der überwachten Erziehung des Menschen zum billigen Rund-um-dieUhr-Soap-Darsteller jedoch träumen nicht nur Endemol und RTL2, sondern beinahe alle privaten Sender - und manchmal auch die öffentlich-rechtlichen. Allerlei Beamte, die kontrollieren, ermitteln, verhaften, verurteilen sind seit einiger Zeit beliebte Darsteller solch vermeintlich dokumentarischer Formate. In den Gerichtsshows spielen Richter sich selbst, echte Polizeikommissare bekommen eigene Serien, zahlreiche Magazine begleiten immer wieder Parkschein-, Lebensmittel-, Sozialhilfe-, Zoll-, Fahrkarten-, Lottostellenkontrolleure bei der Arbeit. Doch nicht nur Straftaten und Ordnungswidrigkeiten geraten ins Visier der Kamera. Auch Wohnungen, Kinder und Körper geben Anlass zum telegenen Tadel: zu geschmacklos, zu frech, zu fett. "Lebenshilfe" heißt das dann. Private Mängel werden öffentlich angeprangert und anschließend TV-kompatibel getilgt. Vorher-Nachher: Am Ende weiß man, wie es aussehen soll, das richtige Leben in der richtigen Welt (Herstellerverzeichnis siehe Videotext).
Die Formate ähneln sich schon in ihrem Vokabular: Gut staatsgewaltig wird die Wohnshow zum "Einsatz in vier Wänden", immer attraktiv sind offenbar auch das Adjektiv "deutsch" und die üblichen Brisanz-Indikatoren wie "spezial" oder "extra". Auch für eine Alliteration ist man sich nie zu schade. Der Titel darf nicht allzu ungewöhnlich, heißt: unverständlich, sein, am besten mit einem gewissen Wiedererkennungswert (Gleichklang!), aber doch irgendwie besonders, exklusiv zum Beispiel. Eine Pro7-Reportage begleitet folgerichtig deutsche Ärzte "im Kampf gegen Fett und Falten", Akte 05/26 (Sat1) wiederum enthüllt: "Festnahme vor laufender Kamera - Wie internationale Betrüger-Banden Deutsche abzocken".
Die kurze Botschaft: Die Welt ist schlecht und gefährlich (was nur zu gerne mit Ausländern oder dem Ausland im Allgemeinen in Verbindung gebracht wird) - das deutsche Fernsehen macht sie wieder gut und sicher. Fortwährend werden dabei diejenigen als soziale Außenseiter denunziert, die irgendwie anders sind. Wobei die groben Ausschläge eh längst gekappt sind: Als abnorm gelten dem Doku-TV heute Menschen ohne Obdach, mit Alkohol-, Partnerschafts- oder Figurproblemen. Glaubt man den Statistiken, steigt auch in der Realität die Anzahl derjenigen, denen es ähnlich geht. Vielleicht weil die Grenzen des gesellschaftlich Tolerierten, und damit Tolerablen, medial immer enger gesteckt werden?
Korrigiert wird ohne jede Rücksicht auf Individualität, das Durchschnittliche gerät schnell zur Norm: Das Schlafzimmer streicht man hellblau mit Abricot-Akzenten, der Busen wird vergrößert, der Falschparker verwarnt, der Obdachlose vertrieben, der Alki in die Ausnüchterungszelle befördert. Diese Arbeit bleibt stets Experten überlassen - Beamten, Ärzten, Beratern. All jenen also, die genau mit solchen kurzfristigen Retuschen ihr Geld verdienen. Das passt vermutlich perfekt zu dem Konzept der Macher, denn auch sie können schließlich die soziale Optimierung nur verkaufen, wenn das Glück, das sie beschert, als solches auch klar zu erkennen ist - wenigstens eine halbe Stunde lang. Zudem legitimieren die Sachverständigen die eingeleiteten Maßnahmen als dringend nötig, ja unumgänglich, als letzte Rettung gar, und lassen so die Redakteure und Regisseure ganz wunderbar im Hintergrund verschwinden - als ob die gar keinen Einfluss auf das Gezeigte hätten. Obwohl sie den mittels Themenwahl und Erzählstrategie natürlich längst genommen haben: Sie entscheiden über die Ausschnitte aus der Realität, die es zu sehen gibt, tatsächlich sind sie hier die Ausführenden. Alle anderen arbeiten ihnen nur zu, stehen entweder auf der Gehaltsliste der Produktionsfirma oder erhoffen sich - wenn sie schon keinen Lohn bekommen - zumindest positive PR-Effekte für ihr Anliegen.
Eine derart durchgängige Reduktion auf die reine Exekutive - von der Legislative erzählt das Fernsehen nur ungern, die Serie Das Kanzleramt scheiterte -, die es freudig unterlässt, ernsthaft nach dem Warum, dem Sinn ihrer Tätigkeit oder dem persönlichen Background der Betroffenen zu fragen, lässt die Rede von der "vierten Gewalt" längst nicht mehr so schön würdig erklingen wie einst - die Gewaltenteilung nämlich ist in solchen Formaten schlicht ad absurdum geführt durch den puren Positivismus, die fortgesetzt kritiklose Hinnahme, Verteidigung und Perpetuierung des Bestehenden. Der mediale Kollateralschaden, den das nach sich zieht: Die Privatisierung des investigativen Journalismus mit vermeintlich fachmännischer oder gar staatlicher Absegnung pervertiert dessen Grundsätze.
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