Der staatliche Bildungsauftrag des Fernsehens war schon knapp zwanzig Jahre alt, da er endlich auch die Kinder erfasste: 1971 lief im Westfernsehen erstmals die Sendung mit der Maus. 1973 startete die Sesamstraße in beinahe allen Ländern der Bundesrepublik. Nur der Bayerische Rundfunk wollte Ernie, Bert Co. nicht zeigen - wegen falscher Darstellung der sozialen Verhältnisse in Deutschland. Am knollennasigen Wucherer Schlemihl lag das damals nicht, denn der stieß erst später zur illustren ABC-Show-Truppe.
Als Kritiker der ansonsten viel gelobten Sesamstraße äußerte sich auch der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman. Nicht nur, dass die Sesamstraße Wissen in zusammenhangslosen Bruchstücken aufbereite und Bildung als unterhaltsam etabliere, führt er in seinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode an, sondern vor allem, dass die Sendung sich als angemessener Schulunterrichts-Ersatz geriere: "Wenn man der Serie etwas vorwerfen kann, dann dies: dass sie vorgibt ein Verbündeter des Klassenzimmers zu sein."
Tiffys Töchter und Maulwurfs Söhne sind heute erwachsen geworden. Und mit ihnen ihre Sendungen. Die nennen sich jetzt Welt der Wunder oder Galileo - aus klein mach´ groß: von der Straße zum Globus, von der Maus zum Astronomen. Nur auf die Alphabetisiererei verzichtet man heute, ansonsten alles wie früher: Kurze Filmchen darüber, wie dies und das Produkt entsteht, wechseln sich ab mit denen über "innovative Techniken".
Weiterhin wird sichtbar nur, was dramatisierbar und visualisierbar ist, vor allem die Biologie und die übrigen Naturwissenschaften. Weder Geistes- noch Sozialwissenschaften gehören in den Lehrplan des TV-Unterrichts, über neue Denkansätze oder Theorien auf diesen Gebieten berichtet höchstens mal das 3-Sat-Magazin Kulturzeit; von einer Stunde nur für sich alleine müssen diese Disziplinen weiter träumen. Allein die TV-Historiker haben sich hineingefunden in die zeitgenössische Präsenz und verpacken seitdem die deutsche Geschichte ein ums andere Mal neu, um sie danach staunend wieder auszuwickeln.
Das Nationale ist ein Sinn, den das Fernsehen den lose flottierenden Fakten verleiht. Das Kapital ein anderer: Die richtige Antwort auf Fragen nach absurden Details kann in einer Quizsendung bis zu einer Million Euro einbringen. Um etwa "Wie hieß Hitlers Sekretärin?" mit "A", "B", "C" oder "D" beantworten zu können, müsste man nichts weiter wissen außer eben dies. Man müsste nichts über Deutschland wissen. Und schon gar nichts über den Holocaust. Wahrscheinlich wären das eher Hürden auf dem Weg zum Sieg. "Pseudo-Kontext" nennt Neil Postman diese Gelegenheiten, die allein erfunden wurden, um das nutzlose Wissen endlich sinnvoll anzuwenden.
Geliefert wird ohne Unterlass, die Sehnsucht nach Fakten, Fakten, Fakten scheint groß - nicht nur das Fernsehen, auch die Printmedien bestücken Bürgers triviales Archiv: Die Süddeutsche Zeitung bringt ein Wissensmagazin auf den Markt, die Zeit und der Geo-Verlag ebenfalls; die Zeit veröffentlicht zudem das Zeit Lexikon und die Zeit Welt- und Kulturgeschichte, je in 20 Bänden. Die augenfällige Stärkung dieses einen Ressorts vollzieht sich allerdings nicht innerhalb der Zeitung; das Wissen wird vielmehr outgesourct und im Magazin-Charakter der zerstreuten Blätterei übergeben. Der Verlagsname im Titel ist Programm, denn nur er führt das jeweilige Wissen auf einen Ursprung, einen Autor, zurück. Allein dadurch unterscheiden sich die Magazine überhaupt, denn alle drei nennen sich schlicht Wissen. Line Extension oder auch Spin Off heißen die Fachbegriffe dafür, zu deutsch Markentransfer oder Auslagerung: Ein Familienmitglied sagt sich los oder wird erst geboren, um dann scheinbar alleine in die weite Welt hinaus zu ziehen, dank seines renommierten Nachnamens aber schnell Eintritt in die bessere Gesellschaft zu finden.
Die Geisteswissenschaften eignen sich dafür so schlecht, weil sie weitere Fragen haben und nicht immer schon die Antwort parat. Doch den Fakten, Fakten, Fakten der Wissens-Magazine folgen mit jeder Ausgabe noch mehr Fakten - stetig steigt der Hunger, denn jede Sondierung des Gebiets erschließt nur wieder weitere Jagdgründe. Bei den vielen bunten Bildern und den unerlässlichen Statistiken - seit jeher Kronzeugen der Realität - handelt es sich um gewohntes fast food: macht nicht satt, aber fett. So setzt sich der Mythos von der ach so komplizierten Welt fort und fort. And now for something completely different hieß das bei der britischen Komikertruppe Monty Python. (Da kam dann immer wieder dasselbe Bild.)
Dass die Aufklärung drauf und dran ist, ihre Kinder zu fressen, benannte der Soziologe Frank Furedi als das Problem der "Autorität der Anti-Autorität". In seinem Spectator-Artikel The age of unreason verwunderte sich Furedi darüber, dass die individuelle Freiheit lauter Gehorsame hervorbringe, die bereitwilligst befolgen, was Personal Trainer, Super-Nannys und all die anderen TV-Umgestaltungs-Gurus mit ihrem klischeeverseuchten Blick auf die Welt und ihre Bewohner ihnen antragen. Eben darum, möchte man ihm zurufen.
Vielleicht ist es also gar kein Zufall, dass die zweite Wissenswelle, die aus jener "Autorität der Anti-Autorität" ihre Energie zieht und seit ein paar Jahren durch die Medien schwappt, wiederum in die Regierungszeit der SPD fällt. Fest steht zumindest, dass die Bindung von Wissen und Institution verdächtig geworden ist: Das Misstrauen gegenüber der so genannten Schulmedizin ist weit verbreitet, dafür stehen Bachblüten, Homöopathie und Die fünf Tibeter hoch im Kurs; auch an den Berufspolitiker glaubt keiner mehr - um die Lösung der staatlichen Probleme kümmern sich stattdessen privat finanzierte Initiativen, die Bertelsmann Stiftung und Industrie-Manager wie Peter Hartz; Universitäten werden wegen mangelnder Vorbereitung ihrer Studenten auf das Berufsleben kritisiert (und entsprechend pragmatisch umgebaut) - obwohl das nie ihre Aufgabe war; und Schule scheint ohnehin ein Auslaufmodell - zumindest schafft sie laut PISA längst nicht mehr das, wofür sie mal ganz gut war: Kindern das Schreiben, Lesen, Rechnen beizubringen und sie nebenbei noch zu ordentlichen Humanisten zu erziehen.
Der anti-staatliche Gestus ist zugleich ein ostentativ anti-intellektueller (was nicht zwangsweise so sein müsste). Weil bislang der Staat derjenige war, der das Wissen unter die Leute brachte, zweifeln nun viele an der Funktionalität der Bildung selbst. Man kennt das von Elke Heidenreichs Sendung Lesen! wie auch aus den Wissensmagazinen: Dass keine Vorkenntnisse vonnöten sind, versteht der Zuschauer nicht nur dadurch, dass die Themen im schnellen Takt wechseln und also jeder jederzeit einsteigen (beziehungsweise hängen bleiben) kann, sondern auch, weil die Moderatoren ausgiebig darauf hinweisen. Elke Heidenreich mag ohnehin kaum mehr rationale Argumente anbringen, warum es das Lesen dieses oder jenes Buches lohnt - das sagt ihr schlicht ihr Gefühl. So ward das Expertentum zur Volkskrankheit.
"Habe nun, ach!" alles Mögliche studiert, lamentierte Goethes Faust vor 200 Jahren, um dem Wort endlich die Tat folgen zu lassen. Immerhin hat er es versucht mit der universitären Bildung. Wer jedoch nur mit dem Herzen gut sieht, hat Verstand erst gar nicht nötig. Die Wahrheit kann man nicht erlernen, sie muss sich offenbaren, weiß der Gläubige. Noch drastischer der Esoteriker: Wo Quizsendungen am laufenden Band Worte ohne Inhalt produzieren, fantasiert er Inhalte ohne Worte - das schlichtweg Unsagbare, die absolute Wahrheit. Geredet wird nurmehr uneigentlich und deshalb in Anführungsstrichen - schon die Sprache gilt dem Esoteriker als Agent satanischer Mächte und Ballast bei seiner Himmelfahrt.
Auch für das geheime Wissen über die "Mondlandung" (in Wahrheit nie erfolgt), den "Tod" von Lady Di (in Wahrheit ein satanischer Ritualmord) oder den "Anschlag" auf das World Trade Center (in Wahrheit von den USA inszeniert) qualifiziert man sich gerade nicht durch Schulbildung und seriöse Mediennutzung - typische Täuschungsmanöver der Mächtigen - sondern indem man dies alles großmütig hinter sich lässt. Veredelt doch gerade die öffentliche Kritik den besonderen Stoff erst zum exklusiven Tröpfchen. Im Nachwort zur achten Auflage des Buches Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 9.11. schreibt der Autor Mathias Bröckers: "Achtung! Sie halten hier ein Buch in Händen, das überwiegend eine schlechte Presse hatte. Genauer: das in der Presse fast durchweg gnadenlos verrissen worden ist." Und weiter: "Für die Heftigkeit dieser Attacken kann es nur zwei Gründe geben. Entweder sind wir wirklich die Verschwörungstheoretiker, Verrückten und Paranoiker, als die wir denunziert wurden. Oder unsere Kritiker fühlen sich durch unser Buch an einem wunden Punkt getroffen, was sie dadurch zu bemänteln versuchten, dass sie uns lauthals an den Pranger stellten."
Der transzendental Obdachlose sucht sich einen neuen Gott, denn die Freiheit der Wissenschaft ist tatsächlich nicht so einfach zu erleiden. Wo so viele Fakten heillos durch die Luft schwirren, müht sich schließlich ein jeder darum, ihnen eine Bedeutung abzuringen. In den USA hat mittlerweile die Theorie der so genannten Kreationisten (auch ID, Intelligent Design, genannt) Eingang in die Schulbücher gefunden, die einen einzigen, das heißt göttlichen, Willen als Schöpfer identifizieren will - wohlgemerkt in die Biologie- und nicht die Religionsbücher. Auch ein paar deutsche Politiker finden Gefallen an Darwins Kritikern. Gleiches Recht für alle: Angespornt davon wollen nun auch die Jünger des Fliegenden Spaghetti-Monsters (FSM), die Pastafaris, die ein Nudelknäuel als waltende Kraft verehren, dieselben Rechte für ihre ID-Theorie einklagen. Kein Zufall, dass sie das statistisch beweisen, indem sie - wie schon Bröckers und auch Michael Moore, der allerdings mit interessanteren Ergebnissen - der Gleichzeitigkeit je nach Bedarf kausale Qualitäten andichten. Die FSM-Religion schreibt das Tragen von Piraterie-Insignien vor, denn, so zeigt eine Grafik ganz deutlich: Während die Piraten auf der Welt immer weniger werden, erwärmt sich die Erde zusehends. Also: Weil die Piraten ... Vor Gericht liegt er dann endgültig blank, der Zwiespalt zwischen der Gerechtigkeit und der Vernunft.
Dass sich das zum lebensbedrohlichen Widerspruch auswachsen kann, erfährt gerade auch die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia. Zumindest behaupten das ein paar Journalisten. Die vermeintliche "Krise" des Jeder-darf-mitmachen, die Viele mit einem gewissen Frohlocken aufzunehmen scheinen, besteht darin, dass Wikipedia-Gründer Jimmy Wales zwei Artikel als "unleserlichen Mist" bezeichnet hatte und zudem einige andere heftig in der Kritik stehen. Doch allein die Veröffentlichung dieser Tatsachen macht daraus noch keine Nachricht. Denn das wussten schon immer alle Nutzer der Online-Enzyklopädie, das war von Anfang an so bei Wikipedia: dass neben vielen anderen, nicht hoch genug zu schätzenden Mitarbeitern, auch die notorischen Rechthaber, egozentrischen Wüstlinge und kruden Ideologen am Werk sind. Die allerdings finden sich - Hand aufs Herz - in allen Medien. Nirgends aber werden sie so heftig ins Verhör genommen wie bei Wikipedia; das sich im übrigen noch nie als Verbündeter des Klassenzimmers angesehen hat, im Gegenteil immer darauf beharrte, nicht als einzige Informationsquelle dienen zu können. Zudem: Nicht einmal 300 der über 300.000 Artikel der deutschen Wikipedia-Version stehen auf der Liste der Artikel, deren Neutralität - von wem auch immer, gleiches Recht für alle - angezweifelt wird; zusätzlich werden diese Seiten gesondert gekennzeichnet. Zwar kommt es immer wieder zu den so genannten edit wars, das heißt: Einer trägt etwas ein, der andere löscht es wieder, der eine macht die Löschung rückgängig, der andere macht die Rückgängigmachung rückgängig. All diese Wortwechsel und Änderungen jedoch sind einsehbar, jeder kann sich beteiligen.
Das nämlich vergessen diejenigen, die jetzt gerade freudig ein Zukreuzekriechen der Demokratie-Verfechter diagnostizieren, allzu gerne: dass eine Debatte besser ist als keine. Denn nur so können und sollen sich neue Formen des Wissens ausprobieren und durchsetzen. Einer alleine macht nämlich noch keine Wahrheit. Und wenn doch, dann sprechen Mediziner üblicherweise von "Wahnzustand".
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