Ein Zimmer für sich allein. Das ist eine der Zutaten, die Virginia Woolf als Voraussetzungen der literarischen Emanzipation benannte. Daran erinnert der kenianische Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o in seinem 1986 erschienenen Essay Decolonising the Mind: Auch er habe einst über ein solches Zimmer verfügt, das ihm „die kenianische Regierung kostenlos zur Verfügung gestellt“ habe, schreibt er. Es befand sich im Kamiti-Hochsicherheitsgefängnis in Nairobi, Zelle 16.
Thiong’o war am 31. Dezember 1977 verhaftet worden, zu einem Prozess kam es nie. Im vorangegangenen Jahr hatte er versucht, ein Volkstheater zu etablieren, das diesen Namen auch verdient, und den Roman Petals of Blood veröffentlicht, der nicht wie seine früheren We
t wie seine früheren Werke von der britischen Kolonialherrschaft handelte, sondern von der Zeit der Unabhängigkeit Kenias – was jedoch kaum weniger bitter klang. Im August 1978 wurde der damalige Innenminister Daniel arap Moi Präsident des ostafrikanischen Landes und blieb das sagenhafte 24 Jahre lang. Auch deshalb setzt Thiong’o das Adjektiv independent oft in Anführungszeichen, wenn von der Republik Kenia die Rede ist. Die Geschicke des Kontinents, schreibt er in Decolonising the Mind, würden immer noch an den Konferenztischen Europas und der USA entschieden, „der Imperialismus kontrolliert weiterhin die Wirtschaft, die Politik und die Kultur Afrikas“.Wie ShakespeareAls Schüler verpflichteten die Kolonialherren den 1938 unweit von Nairobi Geborenen auf ihre Sprache, auf das Englische, während seine Muttersprache Gikuyu der Diffamierung anheimfiel. Die Identität des Jungen brach auseinander, „die Sprache meiner Erziehung war nicht länger die Sprache meiner Kultur“. „Alienation“ nennt er das, Ent- oder vielmehr: Verfremdung. Um dem entgegenzuwirken, verfasste er in den knapp zwölf Monaten seiner Haft seinen ersten Roman auf Gikuyu, Caitaani mutharaba-Ini. „Wir afrikanischen Autoren sind durch unsere Berufung dazu verpflichtet, für unsere Sprachen zu tun, was Spencer, Milton und Shakespeare für das Englische getan haben; was Puschkin und Tolstoi für das Russische getan haben; was in der Tat alle Autoren der Weltgeschichte für ihre Sprachen getan haben“, heißt es in Decolonising the Mind.Seit 1982 lebt Ngũgĩ wa Thiong’o im Exil, zunächst in Großbritannien, heute in den USA. 2004 reiste er erstmals wieder nach Kenia, doch die Hoffnung auf ein anderes Land, zwei Jahre nach dem Ende der Präsidentschaft von Daniel arap Moi, wurde brutal enttäuscht. Einbrecher überfielen den Autor und seine Frau und misshandelten beide schwer.Im selben Jahr erschien, nach fast zwanzig Jahren des literarischen Schweigens, Thiong’o opus magnum Mũrogi wa Kagogo, das 2006 auf Englisch, von ihm selbst übersetzt, unter dem Titel Wizard oft he Crow publiziert wurde und seit Kurzem in einer deutschen Übersetzung von Thomas Brückner – vor dem man hier schon mal den Hut ziehen darf – vorliegt. Herr der Krähen, das sind 942 Seiten, auf denen Thiong’o seinen fantastischen Sarkasmus zu einer boshaften Gesellschaftsgroteske verdichtet, deren bürokratischer Irrwitz nicht darüber hinwegtäuscht, dass sie von nichts anderem als der Wirklichkeit handelt. Und das ist beileibe nicht die einzige Parallele zu dem ähnlich überbordenden Roman Unendlicher Spaß des 2008 verstorbenen US-Autors David Foster Wallace.Vorauseilend gehorsamDa ist also die „Freie Republik Aburĩria“ und da ist deren Diktator, der nur „der Herrscher“ oder „Seine Allmächtige Vortrefflichkeit“ genannt wird und der schon so lange herrscht, dass niemand diese Dauer mehr beziffern könnte. Seine Macht erstreckt sich schließlich nicht nur auf seine Untertanen, sondern auch auf die Naturgesetze. Nach Belieben bringt er die Ordnung des Kalenders durcheinander, „der Januar konnte zum Beispiel mit dem Juli den Platz tauschen“, selbst die Uhrzeit liegt in seinem Ermessen. Was schenkt man so jemandem zum Geburtstag? Natürlich: einen Turm, der „bis an die Himmelspforten“ reicht, damit „der Herrscher jeden Tag bei Gott vorbeischauen und ihm Guten Morgen oder Guten Abend wünschen“ kann. „Marching to Heaven“ heißt also Aburĩrias neuestes Bauprojekt. Wie der Name sagt: ein Himmelfahrtskommando.Verantwortlich dafür zeichnen die stets vorauseilend gehorsamen Minister Machokali und Sikiokuu. Ihre Posten verdanken sie ihrer demonstrativen Untergebenheit. Machokali ließ sich die Augen „zur Größe von Glühlampen aufblasen“ und bekam ob dieses neu erworbenen Weitblicks wie erhofft das Außenministerium zugesprochen; Sikiokuu unterzog sich einer Operation zur Vergrößerung der Ohren, „um besser hören und die privatesten Unterhaltungen […] belauschen zu können – und dies alles im Dienste des Herrschers“, der ihm das ersehnte Innenministerium unterstellte. Nur der Abgeordnete Mambo hatte Pech, als er sich die Zunge verlängern ließ, um zu des Herrschers militärischem Sprachrohr aka Verteidigungsminister befördert zu werden. Die Operation ging schief, die Zunge hängt ihm nun andauernd aus dem Mund. „Der Herrscher missverstand dieses Zeichen und bedachte ihn mit dem Informationsministerium.“Solche Fehlinterpretationen und Verwechslungen von Metaphorik und Wortwörtlichkeit, die das Durcheinander der politischen und religiösen Zeichensysteme im heutigen Afrika mit pointierter Brillanz reflektieren, treiben den Roman vorwärts, ja, stellen dessen Grund und Ursache dar. Schon die Existenz des titelgebenden Hexenmeisters verdankt sich dem Aberglauben: Auf der Flucht vor der Polizei kennzeichnet der so arbeits- wie hoffnungslose Kamĩtĩ sein Versteck als Schrein des Herrn der Krähen.GrößenwahnEin Erfolg auf ganzer Linie: Die Polizisten ziehen verängstigt von dannen, und die Armen und Kranken geben sich hilfesuchend die Klinke in die Hand. Zauberei ist zwar offiziell verfemt, tatsächlich aber alltägliche Praxis, weshalb Kamĩtĩ, erneut gegen seinen Willen, immer weiter nach oben durchgereicht wird, so dass er endlich auch die mysteriöse Krankheit des Herrschers heilen soll, die diesen derart aufbläht, dass er wie ein Ballon durch die Lüfte taumelt und womöglich gar bei Gott vorbeitrudelte, wenn man ihn nicht gewissenhaft vertäut hätte. Die Ärzte nennen die Krankheit „Selbst Induzierte Expansion“, kurz „SIE“. Auch nur eine andere Formulierung für Größenwahn.Gleichermaßen beim Wort nimmt Thiong’o das zentrale Symbol seines Romans, die sich selbst in den Schwanz beißende Schlange. Als der Unternehmer Tajirika mit dem Bau von „Marching to Heaven“ beauftragt wird, bilden sich vor seinem Büro zwei Schlangen (die eine besteht aus Arbeitssuchenden, die andere aus Männern mit Koffern voller Bestechungsgeld), die nicht nur sprichwörtlich endlos sind, weil alle, die vorne aufgeben, sich erneut hinten anstellen. Diese Schlangen werden als subversiv verboten, schon wenig später jedoch als Huldigung des Herrschers mithilfe eines Evangeliums des Schlangestehens so erfolgreich propagiert, dass bald das ganze Land Schlange steht – weshalb man einen Untersuchungsausschuss einrichtet, der die Verantwortlichen dieser offenkundig bösartigen Schlangestehen-Epidemie ermitteln soll.Politische ÄußerungAuch diese Schlange beißt sich also in den eigenen Schwanz, wie sich überhaupt alles im Kreise dreht. Nicht nur einmal holt sich die Geschichte selbst ein, indem sie ihre Vorgeschichte und manchmal noch deren Vorgeschichte berichtet. Manches wird erst im Nachhinein als Figurenrede enttarnt, mal nimmt der Autor den Erzählfaden einer seiner Gestalten auf, mal vice versa. Gerüchte und Geschichten spiegeln sich bis zur Unkenntlichkeit ineinander, der Boden der Tatsachen ist mindestens ein doppelter und vor allem ziemlich wacklig, weil sich die Fiktionen eigenständig fortpflanzen, und zwar vom ersten Satz an: „Es gab viele Theorien über die seltsame Krankheit des Zweiten Herrschers der Freien Republik Aburĩria, fünf davon aber waren in aller Munde.“ Die wiederkehrende Floskel „Ehrlich!“ beschwört niemals den Wahrheitsgehalt der Anekdoten, sondern stets das genaue Gegenteil davon: formidable Fiktion!Was Spencer, Milton und Shakespeare für das Englische getan haben, was Puschkin und Tolstoi für das Russische getan haben, was in der Tat alle Autoren der Weltgeschichte für ihre Sprachen getan haben, das unternimmt Ngũgĩ wa Thiong’ o in Herr der Krähen für seine Sprache: Er begreift sie als politische Äußerung, er macht sie zur buchstäblichen Basis eines hervorragenden Gesellschaftsromans, er erobert sie als Medium des Literarischen. Deshalb wird dieser Roman nicht nur in den afrikanischen Kanon eingehen, sondern vor allem die Weltliteratur gehörig durcheinanderbringen.
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