Hyperlokal!

Medien Den Turmfalken beim Füttern zuschauen - von "muenchen.de" aus die Welt betrachetet

Noch schauen die fünf Häufchen ziemlich doof aus der Wäsche, wenn ihre Eltern eine Maus zu ihren Füßchen legen. Dann knabbert eines der Falkenkinder vorsichtig daran, schreckt aber vor dem Felligen zurück. Manchmal reißt die Mutter noch ein paar Fetzen feines Muskelfleisch aus dem Kadaver, um sie den Hungrigen in die Mäulchen zu stopfen. Immer öfter aber hat sie keine Lust dazu und fliegt einfach wieder ab. Auch dann schauen die fünf Kleinen doof aus der Wäsche, jedoch längst nicht mehr so kulleräugig und flauschig wie in ihren ersten Wochen. Denn die Münchner Nachwuchs-Turmfalken stecken knietief in der Pubertät: Zwischen dem Daunigen sprießen schon die harten Federn, und die Biegung ihrer Schnäbel verrät bereits die Gefahr, die sie bald für Mäuse und ähnliches Getier darstellen werden. In etwa zwei Wochen lernen sie Fliegen. Auch da kann, wie beim Schlüpfen am 1. Juni, jeder live dabei sein: Auf muenchen.de findet sich nicht nur eine Nistkasten-Webcam, sondern auch eine Kamera, die den Einflug des Horstes in dem Städtischen Hochhaus am Münchner Altstadtring im Visier hat.

Das ist Echtzeit-Fernsehen, hyperlokal, antiautoritär (keiner quasselt drüber, die Kamera bleibt durchgehend unbewegt) und handelt noch dazu von süßen und zumindest anfangs irgendwie wolligen Tierchen. Besser kann man das World Wide Web kaum bedienen.

Diesen Trends konsequent zu widerstehen gelingt dagegen der UEFA, und das liegt nicht daran, dass Fußballspieler nur in Einzelfällen süß und noch seltener wollig sind, sondern daran, dass die Regisseure der Spiele sich überraschend wenig für Fußball zu interessieren scheinen. Die EM-Schnitt-Praxis verunmöglicht es jedenfalls immer wieder, den Vorgängen zu folgen. Die UEFA nennt das „Weltbild“, aber ich sehe da nur globalen Einheitsbrei, der aus lauter losen Szenen besteht, die Action und Event simulieren. Bei einem Abseits bekommt man selten eine Wiederholung; nicht jede gelbe Karte ist auch optisch nachzuvollziehen; und dann erscheint plötzlich eine Szene, die irgendwann zuvor aufgenommen wurde. „Taktisch kriegt man eigentlich gar nichts mit“, urteilt auch der Sport- und Medienjournalist René Martens.

Das andere next-big-media-thing neben Echtzeit, Hyperlokalismus und antiautoritärem Wissen ist ja der Datenjournalismus. Nur wollte der bislang noch nicht so recht stattfinden, weil alle damit beschäftigt waren, die vielen Artikel zu schreiben, die dem Datenjournalismus eine große Zukunft prophezeien. Der Bürgerentscheid über die dritte Startbahn am vergangenen Sonntag hat in München nun einiges voran gebracht. Zum einen bei der Süddeutschen Zeitung, die Baupläne, Lärmbelastung, Schadstoff-Emissionen und Immobilienpreise interaktiv aufbereitete. Und zum anderen bei der Stadt, auf deren Seite muenchen.de man die Auszählung der Stimmen live verfolgen konnte. Schnell war klar: Die Münchner lehnen – trotz der prominenten Pro-Stimmen, darunter nicht zuletzt die der FC Bayern AG – den Ausbau ab, und das eindeutiger und weniger wutbürgerig, als sie 2004 den Bau weiterer Hochhäuser in der Innenstadt abgelehnt hatten. Damals stand das eine Hochhaus, in dem die Turmfalken jedes Jahr nisten, freilich schon; es stammt aus den 1920er Jahren. Auch das haben diese Vögel jenen flatterhaften Gesellen von der UEFA nämlich voraus: Sie benötigen keine neuen Hochhäuser und vor allem keine Startbahnen, um unterhaltsames und lehrreiches Fernsehen zu produzieren.

Katrin Schuster ist in Gilching aufgewachsen, das rund 25 Kilometer südwestlich von München liegt

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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