Ich ist ein Ausgezeichneter

Shortlist Clemens Setz hat am Donnerstagabend den Leipziger Buchpreis in der Kategorie Belletristik verliehen bekommen. Katrin Schuster stellt alle Nominierten vor

Fürs Ich haben die meisten Sprachen überraschend wenige Silben übrig, manchen genügt bereits ein einzelner Buchstabe. Oft ähnelt es mehr einem Laut als einem Begriff und wiegt doch ungleich schwerer als andere Wörter. Vor allem in der zeitgenössischen Literatur und offenbar auch beim diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse. Denn der wird in der Sparte Belletristik in jedem Fall ein Ich auszeichnen. Auf der Liste der nominierten Bücher stehen neben drei Romanen, die ein Ego an den Anfang setzen, auch zwei Erzählbände, deren Auftakt jeweils eine Ich-Erzählung bildet.

Ja, sogar unter den fünf nominierten Sachbüchern findet man zwei Ich-Geschichten, Gott und die Krokodile, worin die Journalistin Andrea Böhm von ihrer Reise durch den Kongo erzählt, sowie den „Selbstversuch“ Anständig Essen der Schriftstellerin Karen Duve . Nun will man den Juroren nicht unterstellen, dass männliche Autoren billiger zu Literatur erhoben würden als weibliche, wundert sich aber doch, dass Der alte König in seinem Exil von Arno Geiger unter Belletristik verbucht wurde. Ein Unterschied ist nämlich schwer auszumachen: Duves Ich sucht nach dem richtigen Essen in der falschen Ernährungswelt, und Geigers Ich nach dem richtigen Umgang mit der Demenzerkrankung von August Geiger, dem Vater des Autors. Eine ausreichende Menge literarischer Zeugen führt wiederum auch Andrea Böhm ins Feld. Ist Geiger denn unpolitischer und also ‚literarischer‘?

Die Tapete der Achtziger

Das Wörtchen „Ich“ bringt nicht nur Gattungskonstrukte ins Wanken, sondern vernagelt auch die morschen Balken sozialer Identität höchst notdürftig. „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen“, urteilte Theodor W. Adorno. Wenn Autoren „Ich“ schreiben, ist deshalb zwangsweise davon die Rede, dass sich jedes Subjekt den Wörtern unterwirft, wenn es sie gebraucht. Und manchmal stiehlt sich auf diese Weise auch ein Autor aus der Verantwortung. Anna Katharina Fröhlich etwa, deren Roman Kream Korner zu den Nominierten zählt, sollte auf die Unterscheidung von Autorin und Erzählerin größten Wert legen, damit die Phrasen und Sentenzen („Die Küche einer Frau bleibt nun einmal der zuverlässigste Spiegel ihrer Seele“), all die Umständlichkeiten und schiefen Formulierungen („seine Augen ruhten dunkel und glänzend auf dem Bildschirm“), die orientalische Idylle und überhaupt die ganze Adjektiv-Dekoration nicht an ihr hängen bleiben, sondern als gelungene Einfühlung in eine merkwürdige Schriftstellerin mit Indien-Fimmel gelten dürfen. So muss es jedenfalls die Leipziger Jury sehen, anders kann man die Nominierung kaum nachvollziehen.

Der erste Auftritt des Ich: „Im Parterre lag die alte Ms Bill in ihrem Bett. Durch einen offenen Türspalt hatte ich ihre Brillengläser aufspiegeln sehen, hatte das weiße Kissen erblickt, auf dem ihr Kopf ruhte, als ich im Banne des feuchten Geruchs meiner Tante zu der Treppe gefolgt war, die ins obere Stockwerk des Palais führte, dorthin, wo Mr Bill, der Sohn der Ms Bill, in einem elefantengrauen Morgenmantel aus Seide, mit einer kirschroten Bartbinde um das Kinn und einer gelbbeschrifteten blauen Baseballmütze auf dem Diwan in seinem Fernsehboudoir lag, einem intimen Raum, gefüllt mit aschblau bezogenen Sesseln, Stühlen und Hockern aus schwarzlackiertem Rosenholz.“ Da man leicht überlesen kann, dass der „feuchte Geruch“ nicht von der Tante ausgeht, sei hinzugefügt, dass er aus „Wassereimern“ stieg.

Als Antidot zu dieser viel zu pikanten Prosa empfiehlt sich Tschick von Wolfgang Herrndorf: Die Geschichte einer Freundschaft zweier sozial ungleicher und sich doch sehr ähnlicher Jungs, erzählt aus der Sicht des Bürgersöhnchens Maik, der sich mit dem Satz vorstellt: „Als der Ältere ‚vierzehn‘ gesagt hat, hab ich mir in die Hose gepisst.“ Einer der überraschendsten Momente dieses Romans hat weniger mit dem Buch selbst als mit Lektürevorurteilen zu tun. Man liest den Namen Herrndorf, liest im Klappentext dessen Geburtsjahr 1965 – und nimmt wie selbstverständlich an, dass die Tapeten der achtziger Jahre an den Wänden kleben. Weil das eben so üblich ist, dass die Jugend im Roman der Jugend des Schriftstellers entspricht. Allein, bei Herrndorf ist Sommer 2010, haben die Teenager Maik und André, genannt Tschick, gerade eine wilde Fahrt in einem „nur geliehenen“ Auto hinter sich.

Und Maik erzählt nun: wie es dazu kam, wer ihnen auf der Reise in Richtung Walachei begegnete und was Tatjana Cosic mit alldem zu tun hat. Eine brillante Figurenrede, in der Herrndorf mit dramaturgischer Eleganz und passgenauem Witz die Wirrnisse der Pubertät für sich entdeckt. Jener Zeit, wenn die Erwachsenen nur unverständliches Zeug oder drumherum reden. Und man selbst das ganze Gequatsche für eher überflüssig hält. Wie Maik, der Tatjana lieber nicht beschreiben will, „weil, kann sich ja jeder vorstellen, wie sie aussieht: Sie sieht super aus. Ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.“ Manchmal fehlen einem eben einfach die Worte, weil die nicht alles sagen können. Den Grund für die Reise zum Beispiel, nach dem der Richter fragt. „Zum Glück hat er uns gleich selbst so Antworten angeboten. Zum Beispiel, ob wir einfach Fun hätten haben wollen. Fun. Na ja, schön, Fun, das schien mir auch noch das Wahrscheinlichste, obwohl ich das so nicht formuliert hätte.“ Völlig klar, dass Herrndorfs Blick des Pubertierenden nicht wenige Irrsinnigkeiten der Gegenwart decouvriert. Es gibt in der guten Literatur wohl kaum ein jugendliches Ich, das kein Politikum darstellt.

Die rätselhafte Frau

Zu Maik gibt es wohl keinen krasseren Gegensatz als jenen Slawisten aus der ersten Erzählung in Peter Stamms nominiertem Band Seerücken, der sich in ein abgelegenes Schweizer Kurhaus einmietet, um seinen Aufsatz über die Frauenfiguren in Maxim Gorkis Sommergäste zu vollenden. „Sie kommen allein? fragte die Frau am Telefon noch einmal. Ihren Namen hatte ich nicht verstanden, ihren Akzent konnte ich nicht einordnen“, beginnt die Erzählung Sommergäste. Die unverständliche Frau avanciert erwartungsgemäß bald zur begehrten, denn im Kurhaus wird der Schriftgelehrte auf die Natur zurückgeworfen. Es gibt keinen Strom und kein fließendes Wasser, weshalb er sich im Bach wäscht und Gorki nacherzählt, wobei die rätselhafte Frau eifrig, da ohne Begriff für die Fiktionalität der Gestalten, lauscht. Das natürliche, hörige Weibchen und das intellektuelle Männchen – hier kehrt die romantische Begehrens­konstellation 200 Jahre später nahezu ungebrochen wieder; selbst den Seitenhieb auf die Gender Studies verkneift sich Stamm nicht: „Und warum immer die Frauen?, fragte sie. Ich weiß nicht, sagte ich, Männer sind weniger interessant.“ Zweifel an der Identität sind nicht nötig: „Einfach so bleiben. Das ist perfekt“ antworten in der letzten Erzählung zwei junge Frauen auf die Frage des „Ich“, ob es fürs Foto ein Lächeln aufsetzen solle.

Ein Selbstporträt ganz anderer Art zeichnet Clemens Setz in seinem Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, der mit der Erzählung Milchglas einsetzt. An deren Anfang steht eine Reihe blanker Setzungen, die nichts über die Perspektive verraten, wiewohl sie ausschließlich von einer subjektiven Wahrnehmung erzählen. Erst auf der zweiten Seite tritt Felix auf: „Ich schlief fast keine Nacht mehr durch, seit Bernd, mein Bruder, ausgezogen war.“ Auch dieses Stück handelt von der Sprachlosigkeit der Adoleszenz, die bei Setz jedoch kein Lächeln auf den Lippen, sondern die hässliche Fratze der Gewalt trägt. Spiel und Realität werden ununterscheidbar, da die Zeichen der wirklichen Welt viel zu gut verständlich scheinen. Das nächtliche Tuscheln der Eltern in der Küche zum Beispiel, das abrupt verstummt, sobald der Sohn hinzutritt. „Wie immer verharrten meine Eltern für einen Augenblick in der Position, in der sie sich gerade befanden. Ich hatte sie unterbrochen. Ich unterbrach sie die ganze Zeit. Andere Kinder begrüßten oder überraschten, ich unterbrach.“ Dem Wahnsinn der bürokratischen, religiösen, sexuellen und familiären Realität begegnet man bei Setz ein ums andere Mal – und kann es ein ums andere Mal kaum fassen, wie souverän ein nicht mal 30 Jahre alter Autor über solche Bilder, solche Geschichten, solche Unerbittlichkeit verfügt.

Völlig fremde Wörter

Wo Arno Geiger die andere Wirklichkeit der Demenz von vorne herein als Krankheit definiert und sie deshalb nur als Ausnahmezustand ihr literarisches und politisches Gewicht beweisen darf, da stellt Setz das Normale selbst zur literarischen Diskussion. Und zwar mit einer Präzision, die Anna Katharina Fröhlichs Eigenwilligkeit als hoffnungslos überwürzt blamiert und Peter Stamms Seufzen über die Entfremdung als matten Reflex markiert. Bleiben zwei jugendliche Helden: Maik, der nicht versteht, dass sein Schulaufsatz über den ­Alkoholentzug und die Therapien seiner Mutter vom Lehrer abgewiesen wird, „ich meine, ich hatte ja nichts erfunden oder so.“ Und Felix, der so wahr wie grausam feststellt: „Es gab keine Möglichkeit, uns zu beruhigen.“ Nicht zu vergessen ein Herzstück der Sammlung (so der Titel einer seiner Erzählungen) namens Setz, das offensichtlich begriffen hat, dass das Ich, wie Gottfried Benn schrieb, nur „eine späte Stimmung der Natur“ darstellt und deshalb damit hadern muss, dass es aus nichts anderem als ihm völlig fremden Wörtern besteht: „Maah, sagte die Gestalt sehr leise.“

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter KindesClemens Setz Suhrkamp, Berlin 2011, 351 S., 19,90 €

Der alte König in seinem ExilArno Geiger Hanser, München 2011, 189 S., 17,90 €

Kream Korner Anna Katharina Fröhlich Berlin Verlag, Berlin 2010, 171 S., 19,90 €

Tschick Wolfgang Herrndorf Rowohlt Berlin, Berlin 2010, 254 Seiten, 16,95 €

SeerückenPeter Stamm S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, 191 S., 18,95 €

Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

Avatar

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden