Kleine Kulturgeschichte des Irrtums

Kurssturz Missgeschicke sind heutzutage eigentlich ein ziemlich gutes Geschäft. Oder warum man den Glauben an das Gute im Börsenmakler nicht aufgeben sollte

An dem so plötzlichen wie kurzfristigen Börsensturz in der vergangenen Woche sei – so hieß es bald – ein so genanntes „fat finger trade“ schuld; die banale Tatsache also, dass sich ein Makler vertippt und statt der geplanten 16 Millionen (millions) per falschem Tastendruck 16 Milliarden (billions) Aktien verscherbelt habe.

Es nimmt durchaus wunder, dass just die Börse ein Unternehmen sein soll, das aus einem Versehen keinen Gewinn zu ziehen weiß; dass man dort also auf so ziemlich alles wetten kann, auch auf den Konkurs ganzer Länder, nicht aber auf den Niedergang der Börse selbst. Missgeschicke sind heutzutage eigentlich ein ziemlich gutes Geschäft: Zahlreiche ­Portale im Internet sowie Dutzende TV-Shows und -Stars leben von nichts anderem als dem Berichten oder der Zurschaustellung eigener oder fremder Tölpeleien. Nicht wenige Websites verdienen ihr Geld, indem sie Vertipper bei Ebay aufspüren; andere nennen sich gleich selbst www.volkswagn.com oder www.bhan.de, um wenigstens die auf Schreibfehlern beruhenden Klicks ­abzugreifen und den Usern am besten noch irgendwelche Dienstleistungen in Rechnung zu stellen. Seit Ende 2009 ist sogar das Rückgängigmachen von ­Überweisungen, die wegen eines Tippfehlers zustande kamen, kostenpflichtig.

Sollte die Geschichte vom „fat finger trade“ tatsächlich wahr sein – daran gibt es Zweifel –, müsste sich der Schuldige freilich nicht schämen. Er ­hätte nämlich einerseits das Wort „Tollpatsch“ (das erst vor zwei Jahren mit dem ersten Platz in dem Goethe-­Institut-Wettbewerb „Wörter mit Migrationshintergrund – Das beste eingewanderte Wort“ ausgezeichnet wurde) angemessen aktualisiert: Statt der breiten Füße der ungarischen Soldaten des 18. Jahrhunderts gelten nun die dicken Finger der zeitgenössischen Geldinfanterie als Inbegriff der minderen menschlichen Ausstattung in einer gründlich technisierten Welt. Und er stellte damit eine zeitgemäße Variante einer für die Historie zentralen Figur dar: Schon die mittelalterlichen Narren waren Alter Egos ihrer Dienstherren, über deren ­Tölpeleien man zwar lachte, die aber dennoch ernst genommen wurden.

Nicht zufällig hat die Literatur den Tollpatsch zum schelmischen Helden ­erhoben, und das Kino es ihr später nachgetan, erst im Stummfilm als zum Erfolg stolpernden Gernegroß, dann im Tonfilm als sich stets verplappernden, aber nicht minder enthüllungstalentierten Detektiv: All die Fiktionen vom glücklichen Idioten sind viel weniger ­fiktiv, als man meinen möchte. Dazu muss man gar nicht Sigmund Freud ­bemühen, der im Grunde all den Tätigkeiten mit der Vorsilbe „ver-“ unter­stellte, sie wären längst nicht so ­unabsichtlich geschehen, wie stets ­behauptet wird.

Wäre in der Geschichte der Menschheit alles wie geplant gelaufen, dann sähe die Welt heute vielleicht ganz schön anders aus. Kolumbus wäre erst einmal in Indien und nicht in Amerika gelandet. Und LSD würde wie vorgesehen nur auf den Kreislauf wirken oder wäre gar völlig vergessen, von Teebeuteln ganz zu schweigen. Auch von ­Saccharin hätten wir eventuell nie etwas gehört, wenn Constantin Fahlbergs ­Versuchstöpfchen nicht zufällig ­übergekocht wäre. Ob Marianne von Werefkin genauso schöne Bilder gemalt hätte, wenn sie sich im Jahr 1888 nicht versehentlich durch die rechte Hand ­geschossen hätte, muss ebenso offen bleiben. Und wäre die Mauer auch ohne Günter Schabowskis längst legendärem Stammelsatz „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ am Abend des 9. November gefallen? Man sollte den Glauben an das Gute im Börsenmakler also besser nicht ganz verloren geben.

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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