Kopier mir mal den Kulturteil

Spam-Kolumne Früher hieß das Feuilleton "Unterm Strich". Eine fast schon vergessene Tradition, an die sich neuerdings viele Spammer zu erinnern scheinen

Der Kritiker Julien Louis Geoffroy scheint kein besonders gutes Ansehen genossen zu haben. Laut Meyers Konversationslexikon von 1905 trug er den Beinamen "le terrible" und "nutzte seine Stellung als Kritiker so aus, dass Dichter und Schauspieler sich durch einen Tribut gegen seine Angriffe zu sichern suchten." Ob und wie gut das gelang, verschweigt das Lexikon höflich und urteilt weiter: "Es fehlte ihm nicht an Geist und Witz, und wenn sein Stil oft grob und schwülstig ist, so sind seine Gedanken meist gesund und treffend. Sein 'Commentaire sur Racine' (Par. 1808, 7 Bde.) ist ohne Wert." Nach Geoffroys Tod 1814 kursierte ein epigrammatischer Dialog über die Todesursache des Schrecklichen; der Unvorsichtige habe versehentlich an seiner giftigen Schreibfeder genuckelt, hieß es.

Zuvor aber hatte er eine Idee, für die man ihm außerordentlich dankbar sein muss: Er erfand das Feuilleton. Im Jahr 1800 soll es gewesen sein, da der Jesuitenzögling Redakteur des Journal de l'Empire (später Journal des Débats) wurde und als solcher die Bezeichnung "Feuilleton" einführte. Das französische "feuilleton" bedeutet nichts anderes als "Blättchen" und meinte den Extrabogen mit Theaterkritiken, den Geoffroy dem Journal beilegte. Später wurde dieses Blättchen ob seiner Beliebtheit thematisch erweitert und fand zudem Aufnahme in das Hauptblatt, allerdings weiterhin strikt getrennt vom politischen – soll heißen: seriösen – Teil: Das Feuilleton stand fortan unterm Strich.


Antiwitze für Humoristen

In Zeitungskreisen huldigt dieser Tradition heute nurmehr die Taz – in Spammer-Kreisen dagegen scheint sich diese Rubrik gerade erneut als Ort der Kultur und der kleinen poetischen Form zu etablieren. Dort, wo unsereins üblicherweise schnöde seine Kontaktdaten vermerkt, finden sich in Spam-E-Mails nicht nur abstrakte Buchstaben-Gedichte (oder -Dramen?) wie "Iraboezf ydlgero pofs :) Vylsoutae eewawov Cta" oder "Wuoxqabujo ycariozl waimpyefo csyquapap? Nkwotnogat oljukurgd gumuovaw. Cuwuupteol hldoymi!", sondern auszugsweise auch viele bedeutende literarische Werke wie die Tom-Swift-Serie. Ausführlich dokumentiert wird zudem das Genre der Chuck-Norris-Witze, eine Unterkategorie der raffinierten "Antiwitze": "Chuck Norris schläft bei Licht – Nicht weil er Angst vor der Dunkelheit hat, weil die Dunkelheit Angst vor ihm hat" oder "Chuck Norris wurde neulich geblitzt – beim Einparken" oder "Chuck Norris war auf mehr Robbie-Williams-Konzerten als Robbie Williams".

Dabei handelt es sich natürlich um die klassische Copy-and-Paste-Poesie: Programme surfen für Spammer durch das Netz, kopieren automatisch Texte, wo immer es juristisch keine Probleme geben dürfte – am besten also auf privaten Seiten, in Communities oder bei Google –, und schneiden diese für die Werbemails zusammen, damit der Spamfilter nicht schon am Format erkennt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.

Wer diese Spam-Rubrik aufmerksam verfolgt, weiß also zu jeder Zeit, wie weit die Digitalisierung der Kultur bereits fortgeschritten ist, welche Texte im World Wide Web bereits zu finden sind. Historisch betrachtet ist dieser Fortschritt allerdings ein Rückschritt: Auf die Chuck-Norris-Witze folgte erst der Roman The Man of Lower Ten aus dem Jahr 1904 von Mary Roberts Rinehart, und neuerdings bekommt man unterm Spam-Mail-Strich sogar Charles Darwins Briefwechsel – eine raffinierte Pointe der Spammer, fürwahr! – zu lesen. Dessen Evolutionstheorie hat angesichts von Spam-E-Mails ja ohnehin schon immer eingeleuchtet: Spams müssen sich stets von neuem unseren Interessen und digitalen Gewohnheiten anpassen und überleben eben deswegen noch jede Krise: als blumige Krebsgeschwüre der Kommunikation.

In ihrer Kolumne öffnet uns Katrin Schuster regelmäßig den Blick in die Abgründe und Absurditäten der elektronischen Post. Letztes Mal beschäftigte sie sich mit dem Mut zur Lücke

Katrin Schuster, Jahrgang 1976, ist Medien- und Literaturkritikerin und seit 2005 Freitag-Autorin. Sie lebt in München

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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