Kübelweise offene Geheimnisse

Kulturkommentar Was wir im "Spiegel" dank Wikileaks nun so alles über unsere Politiker lesen, nennt man: Klatsch. Was aber ist Klatsch genau? Und warum kann er sogar sinnvoll sein?

Jede gute Klatschbase weiß, welchen vier bis fünf Personen sie eine Geschichte erzählen muss, damit diese sofort als heiße Neuigkeit die große Runde macht. Die Whistleblower-Plattform Wikileaks hat fünf westliche Zeitungen auserkoren, den britischen Guardian, die New York Times, die spanische El País, die französische Le Monde und den deutschen Spiegel.

Keine zögerte, als Wikileaks seine nächste heiße Neuigkeit unter die Leute gebracht sehen wollte. „ENTHÜLLT – Wie Amerika die Welt sieht“ titelte der Spiegel an diesem Montag, Porträts von Angela Merkel und elf ihrer internationalen Kollegen im Polaroid-Stil zierten das Cover. Jedes Bild war mit einem Zitat über die Charaktereigenschaften dekoriert; die Typografie hielt sich an die guten alten Schreibmaschinen-Geheimdienst-Zeiten. Wie es Klatschbasen eben tun: stellen Fragen ( „Wie schätzen die Amerikaner die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein?“) und erwarten gar keine Antwort, weil sie selbst ja die beste haben.

Ein wichtiges Merkmal von Klatsch, sagt die Wissenschaft, sei die „Diskrepanz zwischen der öffentlichen Ächtung und der privaten Praktizierung von Klatsch“. Nur so kann es Geheimnisse geben, von denen keiner spricht, aber jeder weiß. Das nennt man dann ein „offenes Geheimnis“, und davon ist jetzt, anlässlich Äußerungen von US-­Diplomaten über deutsche und andere Politiker, oft die Rede. Als ob wir das nicht längst gewusst oder geahnt ­hätten! ruft das Volk und äußert zugleich großes Verständnis für derlei informelle Kommunikation – womit zuallererst die eigene Lust am Klatsch entblößt ist. Klar: Das beste Programm sendet immer noch der Flurfunk, weil er einem die Anderen als echte, fehl­bare Menschen näherbringt und uns zu einer ­Gemeinschaft schmiedet, die sich an ihrem Gefühl von Stärke wohlig nährt.

Die Grenze zum Privaten

Ohnehin, gibt die Wissenschaft zu bedenken, habe eine „therapeutische Nobilitierung“ des Klatsches eingesetzt. Klatsch sei sinnvoll und gesund, das behaupten nicht nur Boulevard-Magazine und Lebenshilfe-Bücher, das bestätigt nicht zuletzt die Forschung selbst. Sie konstatiert, dass Klatsch eine soziale Notwendigkeit darstelle. Das wiederholen nun einmal mehr die Journalisten, die die Veröffentlichung von diskreten Dokumenten über das Image dieses oder jenes Politikers zur investigativen Topstory erheben. Sie soll der Welt endlich zeigen, wie es wirklich in ihr zugeht. Mit demselben pathetischen Tonfall täuscht auch jede gute Klatschbase kurz darüber hinweg, dass die Geheimnisse oft gar keine richtigen Geheimnisse sein wollen.

Die Paradoxie des Klatsches, der die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem ständig überschreitet, während er lauthals auf deren Einhaltung pocht, wird sogar recht unmissverständlich beim Namen genannt: Sowohl die „Base“ als auch die englische „gossip“ meinen (weibliche) Mitglieder des erweiterten Familienbunds; Frauen also, die drinnen und draußen, privat und öffentlich zugleich sind. Wenn Klatsch mithin als geheimer Geheimnisverrat verstanden werden darf, dann sieht jene intransparente Organisation namens Wikileaks, die sich der welt­weiten Transparenz verschrieben hat, ihm wirklich verblüffend ähnlich.

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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