Nein, gut hat es das Leben mit Peter Wawerzinek nicht gemeint. Als er zwei Jahre alt war, verließ seine Mutter die Rostocker Wohnung und kam nie wieder zurück. Ging in den Westen, ohne ihre Kinder mitzunehmen. Nachbarn entdeckten den Jungen und dessen jüngere Schwester gerade noch rechtzeitig in der verwahrlosten Wohnung; die beiden wurden voneinander getrennt, kamen in verschiedene Heime, lernten sich erst viele Jahre später kennen. Als Wawerzinek endlich auch die eigene Mutter traf, da war die Mauer längst gefallen und er hatte die 50 bereits überschritten. Eine für ihn enttäuschende Begegnung. Eine Hoffnung, die daraus entstand, erklärte er in einem Interview: „Dass ich ihr auch ein bisschen auf die Seele drücke. Dass ich ihr schle
hlechtes Gewissen bin. Auch wenn das primitive Gefühle sind.“ Als Ergebnis des Treffens darf außerdem das Buch Rabenliebe gelten, das weniger ein Roman als vielmehr ein autobiografischer Essay ist, dessen Beginn der Autor beim diesjährigen Bachmannpreis-Wettbewerb vorlas und damit reüssierte.In Rabenliebe, das im ersten Teil vom Aufwachsen in verschiedenen Heimen und bei den Adoptiveltern, im zweiten von der Suche nach der Mutter, der Fahrt zu ihr wie dem Gespräch mit ihr erzählt und zu allen Zeiten über das schwierige Erinnern und Auskommen mit der eigenen Vergangenheit nachdenkt, sind immer auch andere Stimmen als diejenige Wawerzineks zu hören. Mitten im Text machen sich Volkslieder, Märchen und Kinderverse bemerkbar, bruchlos sind sie darin eingefügt – als seien dem Autor gerade die Worte ausgegangen und erhaschte er gerade noch das kollektive literarische Gedächtnis als letzten Anker, um im Meer der Erinnerungen nicht wortlos unterzugehen.Deutlich abgesetzt von Wawerzineks Text finden sich dagegen Zeitungsmeldungen von vernachlässigten und ermordeten Kindern, Gesetzestexte über Adoption, Dichtersentenzen. Das ist der Rahmen, der Kontext, in dem der Autor seine eigene Geschichte gesetzt sehen will. Und dabei geizt er wahrlich nicht mit Selbstgerechtigkeit: Nicht wenige große Namen werden so zu Kommentatoren seiner individuellen Erlebnisse, selbst die Erläuterungen des Regisseurs Roberto Benigni über dessen Holocaust-Film Das Leben ist schön zieht er heran, um das Exemplarische seines Lebens in den Blick zu rücken. Ziemlich schwere Geschütze.Und tatsächlich ist dieses Buch ein Kriegszug, ein großer Kampf mit, gegen und in der Sprache, geführt von einem Ich, das sich wegen seiner Existenz als mutterloses Wesen andauernd zu immer wieder neuen und anderen Definitionen seiner selbst gezwungen sieht. „Ich bin …“ ist eine der häufigsten Formeln in Rabenliebe, einzig diesem Ich gesteht der Autor die Fähigkeit zu bedeutsamem Handeln und Verhalten zu, für die meisten anderen – die Heimleiter, die Adoptiveltern und die richtige Mutter – hat Wawerzinek allererst Verachtung übrig. Erstere zeichneten sich durch eine Lust am Quälen aus, Zweitere durch ihre Unfähigkeit, ein Individuum wie ihn liebevoll zu erziehen und richtig zu fördern. „Unbedarften ist der Zugriff auf eine kindliche Person erlaubt worden“, erzürnt sich das Ich. Die juristische Wortwahl ist freilich kein Zufall: Nicht nur einmal fordert der Autor staatliche Konsequenzen für Eltern, die für „Mängelwesen“ wie ihn verantwortlich seien.Immer wieder wird der Leser von dieser Egozentrik des Textes zurückgestoßen, der sich damit selbst der Eindringlichkeit beraubt, die er dank Wawerzineks expressiver Sprachkraft in jedem Fall besitzt. Er spreizt sich, wo es ihm eigentlich an Nüchternheit mangelt; er hält nicht ein, wo besser kurz Stille herrschen sollte; er delektiert sich am Pathos, wo es zum Kitsch nicht mehr allzu weit ist. Und er weist allen anderen, darunter auch schon mal dem kapitalistischen Westen, die Schuld für das Elend des Ichs zu. Peter Wawerzinek findet schlichtweg kein literarisches Maß für seine Wut – sofern man denn davon ausgehen möchte, dass es dieses Maß überhaupt gibt. Rabenliebe jedenfalls ist sichtlich mit heißesten Gefühlen zu Papier gebracht, wenigstens im zweiten Teil, der von der Fahrt zur Mutter handelt. Da windet sich das Ich wiederholend, will schlichtweg nicht zu einem Ende kommen, um letztlich nurmehr Hass loszuwerden, als es der Mutter endlich gegenübersitzt: „Was für eine erbärmliche Frau da auf was für einem erbärmlichen Gestühl sitzt. Nicht den Schatten wert, der sich schwach von ihr auf dem Boden abzeichnet.“ Und danach werden ein weiteres Mal die Schwierigkeiten wie die Authentizität dieses Schreibens beschworen.Der erste Teil dagegen, der just von der Zeit handelt, über die der Autor schon einmal schrieb (Das Kind, das ich war, 1994), ist viel zarter, viel leichthändiger, viel liebevoller. Eben: mit der angemessenen Distanz geschrieben. Auch hungert der Autor darin nicht gar so offenherzig und verwundbar nach Sühne, begibt sich stattdessen tatsächlich auf Erkundungen ins eigene Ich. Immerhin dort hat sich also die Erkenntnis niedergeschlagen, die man dem ganzen Buch gewünscht hätte: Sühne ist nichts, was sich literarisch bewerkstelligen lässt, sondern, wie Wawerzinek selbst ganz richtig feststellte, bloß ein primitives Gefühl. Wurde sie doch einzig und allein erfunden, eben weil sich nun einmal nichts ungeschehen machen lässt.
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