Dafür, dass da Unfassbares geschehen war, wurde das Ereignis recht schnell auf einen Begriff gebracht. Die Ziffernkombination 9/11 bezeichnet seither die Tatsache, dass am 11. September 2001 zwei Flugzeuge die Türme des World Trade Centers zum Einsturz brachten, eine weitere Maschine ins Pentagon einschlug, eine vierte auf einem Feld in Pennsylvania zerschellte, wobei insgesamt fast 3.000 Menschen ums Leben kamen.
Wenn ein Datum Geschichte schreibt, deutet das nicht nur auf eine wenigstens angenommene Inkommensurabilität, sondern vor allem darauf, dass die Worte fehlen, mit denen sich das Geschehen benennen ließe. Weshalb dann immer die Literatur gefragt ist: Über den Anschlag auf die New Yorker Türme haben, um nur die prominentesten zu nennen, der als Provokateur geführte französische Autor Frédéric Beigbeder (Windows oft he World, 2003), der große US-Erzähler Don DeLillo (Falling Man, 2005) und der Fiktionszauberer Jonathan Safran Foer (Extrem laut und unglaublich nah, 2007) geschrieben. Beigbeder zählte die letzten Minuten verschiedener Opfer, bei DeLillo kamen ein Augenzeuge und ein Attentäter zu Wort, auch Foer integrierte sehr verschiedene Stimmen. Die Wiedergabe nur einer einzigen Perspektive scheint diesem Thema offenbar nicht gerecht zu werden; vielleicht ist es wirklich unmöglich, nach einem solchen Ereignis noch eine eigene literarische Autorität zu behaupten.
Dieses Moment findet man auch in Thomas Lehrs eben erschienenem Roman September wieder. Bei ihm sind es vier Figuren, die nicht nur von dem Anschlag, sondern auch von den privaten wie politischen Folgen, von Trauer und Verlust und von dem Krieg gegen den Irak und dessen Auswirkungen auf die Bevölkerung berichten. Zwei Vater-Tochter-Paare: der Bagdader Arzt Tarik und seine Tochter Muna sowie der Germanistikprofessor Martin und seine Tochter Sabrina. Die beiden fast schon erwachsenen Mädchen sterben im Laufe des Buches, sie verstummen, bleiben einzig als das Du der inneren Monologe ihrer Väter anwesend, als Gespenster der Vergangenheit, die durch die Gegenwart der Lebenden geistern. Sabrina kommt im World Trade Center zu Tode, damit endet das erste Kapitel; Muna drei Jahre später, im September 2004 und fast schon am Ende des Romans, bei einem Bombenattentat in Bagdad. Dem folgt nurmehr der Epilog, in dem die Zeiten und die Stimmen ineinander fließen, von Blickwechseln oder gar Begegnungen dieser vier Personen die Rede ist, die vielleicht einmal stattgefunden haben oder stattfinden werden, vielleicht aber nur einer hoffnungsvoll sich annähernden Imagination entsprungen sind.
Ohne Atempause
Der Autor begnügt sich nicht damit, mehrere Perspektiven auf das Geschehen zu Wort kommen zu lassen, sondern lässt auch die Sprache ins Offene und Ungesicherte stolpern und stürzen. In September gibt es nur einen einzigen Punkt, nach dem allerletzten Satz. Auch finden sich keine Kommata in Thomas Lehrs Text, keine Fragezeichen, eben überhaupt keinerlei Interpunktionsmarken außer den Klammern, die den Text an vielen Stellen durchsetzen und Ergänzungen, Anmerkungen, andere Formulierungen einfassen.
Einzig zwischen den verschiedenen Kapiteln pausiert dieser Roman, bleibt ein wenig Zeit zum Aufatmen, bevor der Strom des Erlebens, der Gespräche, der Gedanken von Muna, Sabrina, Tarik und Martin den Leser wieder mitreißt. Was durchaus wörtlich zu verstehen ist: Die Monologe dieser Vier füllen die Zeilen oft nicht von Anfang bis Ende, sondern brechen immer wieder ab, um in der nächsten Zeile noch einmal neu anzusetzen. Zeilensprung nennt man das in der Verslehre, und manche Seiten von September sehen einem Langgedicht, zumindest absatzweise, ausgesprochen ähnlich. Martin, 11. September 2001:
ich sah mit bleiernem Gesicht das mir schier die Augen aus den Höhlen presste immer wieder
und ich dachte nicht ich sah nur wieder und wieder
und wieder
die Endlosschleife des Untergangs
Eben das ist es, was Lehr an 9/11 eigentlich interessiert: die „zu einem unentwirrbaren Büschel einem blutigen qualmenden Knäuel zerfledderte geballte Zeit in der die Türme fallen auferstehen zusammenbrechen niederkrachen bluten aufflammen in einer Wolke verschwinden wieder unversehrt vor dem Himmel glänzen nur noch als Strünke dastehen erneut über Manhattan thronen wieder in die Straßen hinabschäumen“.
Wie sich die Zeit selbst erzählen lässt, ist schon seit einigen Jahren und Romanen das große Thema dieses Autors: In der Erzählung Frühling (2001) protokollierte er die letzten 39 Sekunden im Leben eines Mannes, in dem Roman 42 (2005) erprobte er seine ja stets mäandernde Sprache und seine gewagt pathetische, brillante bis bizarre Metaphorik an einem Stillstand der Zeit, ausgelöst durch einen Unfall im Genfer Kernforschungszentrum Cern.
Durchsichtig auf Vergangenheit wie Zukunft
In September nun spiegelt er „das gnadenlose Anhalten Repetieren Wiedereintreten der Katastrophe“ in einer schwebenden Gleichzeitigkeit. Die Kapitel scheinen zwar Rückblicke zu sein, es wird jedoch im Präsens erzählt, stets bleibt alles durchsichtig auf Vergangenheit wie Zukunft. Im September 2001 etwa wird Sabrina erinnert als eine, die „noch heute Gedichte schreibt (die noch als junge Frau Gedichte schrieb)“.
Der Untertitel des Buches – Fata Morgana – könnte mithin als Gattungsbezeichnung verstanden werden, denn September ist tatsächlich eine Luftspiegelung: nicht real, aber die Wirklichkeit doch getreu abbildend. Alle Stimmen in Lehrs Roman – dazu gehören außerdem jene der Dichter Goethe und Hafis, die der Autor als feine Fäden in seinen Teppich einflicht – treten in einen Dialog, spiegeln einander und spiegeln zugleich 9/11. Vor allem das Leben im Irak vor und nach dem Beginn des Krieges schildert Lehr in einer seltenen Eindringlichkeit und zugleich Klarheit, die von tiefgründiger Recherche zeugt.
So also verdichtet man diese Katastrophe, die nur als Fata Morgana auf den Bildschirmen erschienen war und deshalb noch lange erinnert werden wird. Was gleichermaßen für Thomas Lehrs Luftspiegelung September gilt: Dieses Buch vergisst man nicht.
September. Fata MorganaThomas Lehr Hanser Verlag 2010, 24,90
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