Die Aktienkurse gaben nach, als man sich im September bei der Firma Siemens darauf einigte, defizitäre Sparten eben nicht durch Entlassungen zu sanieren. "Der Stellenabbau ist nicht zuende", mutmaßte dennoch der Gesamtbetriebsrat-Chef der Firma vergangene Woche.
"Ein Gespenst geht um - das Gespenst der Globalisierung", heißt es dem ganz gemäß im Pressetext der Münchner Kammerspiele. In der vergangenen Spielzeit hatte Frank Baumbauer sein Haus ähnlich aktuell unter das Motto Glaubenskriege gestellt, - und für sein Programm viel Lob und Preis geerntet -, in dieser Saison steht in großen Lettern an der Fassade: "Du sollst nicht sparen". Was damit gemeint sein will, erklärt sich so: "Wir fragen ... nach Subversion und Widerstand, nach anderen Lebensmodellen und alternativen, ökonomischen Theorien." Ganz unten fand sich der Unterstützer dieses Vorhabens: "In Zusammenarbeit mit dem Siemens Art Programm".
Statt Versuche des Verschwendens zu unternehmen, fragten die ersten Premieren allerdings vorerst nur nach den Mechaniken der Ausbeutung. Noch bevor Luk Perceval und Feridun Zaimoglu ihre Lulu-Version "nach Frank Wedekind" namens Lulu live dem Publikum beibrachten, gab es am 7. Oktober Felicitas Bruckers Inszenierung des neuen Stückes Draußen tobt die Dunkelziffer von Kathrin Röggla und zwei Wochen später Rene Polleschs Schändet eure neoliberalen Biographien.
Kathrin Rögglas Text lässt sich ganz einfach den viel geschmähten "Textflächen" zurechnen, gerecht aber wird man ihm damit nicht. Draußen tobt die Dunkelziffer ist eine sprachlich kräftige wie spielerische Ansammlung von Szenen oder vielmehr Stimmen, zusammengesetzt und zusammenerfunden, nachdem Röggla in Schuldnerberatungen den Privatinsolvenzen hinterher recherchiert hat. Sie selbst gibt ihren Text völlig aus der Hand: Man dürfe alles damit machen, schreibt sie, solange "nicht versucht wird, eine exemplarische erzählung herzustellen, eine metaerzählung, die alles hübsch in einem pädagogisch-moralischen sinn ordnet."
Regisseurin Felicitas Brucker hat weniger dies, denn zuallererst das "Draußen" ernst genommen: Die Schauspieler und auch das Publikum werden von Bühnenbildnerin Nadia Fistarol mit einem Fototapeten-Wald umschlossen, darin eingelassen ein Fernseher, darin das gleiche Motiv. Nur auf diesem Bildschirm vergeht die Zeit und mit ihr die Natur. Bald liegt Schnee auf den Ästen, dann pixelt das Video, bis aus Baumstämmen ein Strichcode ward.
Die sechs Menschen auf der grün beteppichten Bühnen-Lichtung sind sichtlich Konsumopfer. Sie liegen modisch so sehr im Durchschnitt, dass die Tragik jedes Trends zu Tage tritt: Viel zu viele bezahlen viel zu viel Geld dafür, um als individuell zu gelten - während sie just in diesem Moment in Serie gehen (Kostüme: Sara Schwartz).
Doch die Schauspieler spielen sich oft genug heraus aus diesen Rüstungen des 21. Jahrhunderts, sind so genau und bedacht in ihrem verzweifelten Haltungbewahren und Haltungverlieren, dass Bruckers Inszenierung der Autorin trotz deren Abwehr des Individuellen passen könnte - weil alle Sätze und Gesten, die Charaktere aufscheinen lassen, jederzeit in ganz andere überwechseln können. Man begreift eine Person, zu jeder Zeit, doch gerne immer wieder als andere. Während Arbeitslosenstatistiken den Einzelnen längst nicht mehr betreffen (außer er ist Betroffener), hört man nämlich hin, wenn Caroline Ebner erzürnt aufheult: "kommen sie mir jetzt nicht mit datenschutz! die gläubiger sind informiert. die gläubiger wissen schon, wer wann für was verurteilt wurde, und die kredithaie ebenso ... tatsache ist, dass die post nur so hereindonnert, tatsache ist: die kreditangebote, die preisausschreiben, die billigversandhäuser, die rechtsanwaltsbriefe, die kommen pausenlos rein."
So beweisen Ebner, Anna Böger, Martin Butzke, René Dumont, Daphne Wagner und Walter Hess in einem Stück, das ihre Fähigkeiten zur Subjektvorstellung nicht so recht haben will, dass manchmal doch nützlich sein kann, was sie können: So zu tun als ob. Einzige, auch von Brucker nicht ganz gebannte Gefahr: dass die Rede von der Eigenverantwortlichkeit prima andockt an eine solche Darstellung.
Wo Brucker und Röggla sich aneinander reiben, scheint René Pollesch seine Lösung längst gefunden zu haben (wohl weil er Autor und Regisseur in Personalunion ist): die wie besessene und wütende Ausstellung der ganzen "Scheiß"-Sinnlosigkeit. Protest ist Pop, von Anfang an - was nicht zuletzt für Pollesch selbst gilt. Für Schändet eure neoliberalen Biographien hat er sich diesmal Giorgio Agamben vorgenommen, jenen Theoretiker des nackten Lebens und des Lagers, den man gerade nicht nicht lesen kann, will man als intellektuell gelten. Seinen Schlagwörtern entlang hangelt sich das Stück.
Mehr nicht. Denn wie immer rotiert Polleschs Sprech-Maschine - hier aus vier Schauspielern (Gundi Ellert, Katharina Schubert, Stefan Merki und Sebastian Werr) und einem Souffleur -, die fortwährend Derbes, Böses und Theoretisches im Stile des Aphorismus von sich gibt, viel zu schnell, als dass ein Nach- und Mitdenken hinterher kommen könnte.
René Pollesch braucht seine Schauspieler ohnehin zuerst hinter dem Vorhang (den es bei ihm naturgemäß nicht gibt): Das Stück erarbeitete er wie immer gemeinsam mit ihnen. Im Gegenzug wird die konkrete Aufführung so sehr zum Knochen-Job, dass man tatsächlich meint, ein wenig der Realien der Schauspieler (ihr nacktes Leben?) zu erhaschen, wenn sie erleichtert lächeln und erschöpft zusammensinken, sobald ihr Stakkato kurz aussetzen darf.
Das bürgerliche Subjekt liegt im Sterben - und erste Hilfe will zwar vielleicht Felicitas Brucker, wollen aber weder Kathrin Röggla noch René Pollesch leisten. Dass die Autoren darin so eindeutig und eindrucksvoll von den Schauspielern unterstützt werden, ist keine Antwort auf die Frage nach der Individualität in Zeiten ihrer kapitalistischen Vollverwertbarkeit. Aber doch eine je gelungene Katastrophenübung. Die Wirklichkeit wird schließlich nicht warten.
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