Drei Wahlurnen, eine rot, eine gelb, eine grün. Nach jeder der acht Vorstellungen des Münchner Theaterfestivals radikal jung steht eine Menschentraube davor, um Abstimmungskarten je nach Meinung einzuwerfen - Grundlage für den am Ende verliehenen Publikumspreis. Das Publikum spielt eine große Rolle in dieser Woche: Nach jeder Vorstellung stehen die jungen Theatermacher ihm Rede und Antwort, eine tägliche Zeitung informiert die sich stets drängende Masse. Eine schöne Theateratmosphäre, in die das Volkstheater lud. Wie schon im vergangenen Jahr hat es acht deutsche Inszenierungen nach München geholt, diesmal ausgesucht von den Juroren Kilian Engels, Annette Paulmann und C. Bernd Sucher. Einzige Bedingung (außer der Qualität natürlich): dass der Regisseur höchstens 30 Jahre alt sei.
Dass die Jungen aus einem anderen kulturellen Fundus schöpfen als ihre älteren Kollegen, wurde naturgemäß schnell kenntlich. Die Band Nirvana wurde im Laufe der Woche gleich dreimal zitiert, auch The Hives gab es zu hören. Nur eine Ausnahme: Susanne Zaun hat sich ganz allein der Musikalität des Sprechens verschrieben. Ihre vier streng choreografierten Schauspielerinnen lässt sie flüstern, dröhnen, lesen, chorisch Sätze stückeln. In Dreckig tanzen zerlegt die mit 26 Jahren Jüngste in der Runde - die einzige auch, die ein eigenes Stück inszenierte - den achtziger-Jahre-Blockbuster Dirty Dancing in ikonografische Einzelteile.
Wie Aufziehpuppen hampeln vier Mädchen zum Geräusch einer spulenden Kassette über die quadratische Spielfläche. Immer wieder tritt eine ins Licht ans Mikrofon, plaudert aus ihrem Dirty Dancing-Nähkästchen. Sie habe zuerst nur die Musik gekannt, berichtet eine, sie so oft gehört, dass die Kassette bald leierte, und deshalb auf einem anderen als dem eigenen Tonträger nie wiedererkannt, "weil es nicht leierte". Von solchen Überlagerungen von Individuellem und Seriellem erzählen auch die zahlreichen, zersetzten Dialog-Zitate und Bewegungsmomente, sowie die Internet-Foren-Beiträge, die nüchtern vom Blatt abgelesen werden. Da fantasieren "Baby04", "Zaubermaus" und "Dancing Queen" über die Zukunft von Baby und Johnny. Lauter im Kern identische Visionen aus ach so einzigartigen Mädchenmündern.
Vorwiegend um die Sprache ging es auch Christine Eder. Ihre Version der Antigone dreht sich ganz um Kreon, dessen Rede sie neu rhythmisiert und abstrahiert. In einem metallenen Guckkasten sitzen an einem Tisch mit Knabbereien und Kaffeekanne fünf je einfarbig gekleidete Menschen. In diesem ausweglosen Pausenraum dehnt Kreon Jörg Pose die Worte, mal quäkt er sie, mal spricht er sie lapidar daher, mal wie auswendig gelernt. Doch Christine Eder will nicht nur die Stimme, sondern den ganzen Körper der Schauspieler auf der Bühne. Als der Bote dem Kreon vom Gesetzesbruch der Nichte Antigone berichtet, sitzt Anna Blomeier schon auf Jörg Poses Schoß, die Arme fest um seinen Hals geschlungen, kaum abzuschütteln in dem Ringkampf zwischen Sippensinn und Staatsräson.
David Bösch dagegen kürzte den Sommernachtstraum um Historisches, um Raum für die eigene Deutung zu schaffen. Shakespeares Handwerksburschen pimpt er zur Boygroup mit süßem Pop im Repertoire, im Bilderbuchzauberwald tummeln sich Splatterfilmhelden mit Scherenhänden und Bohrmaschinen. Die Liebeswirren wiederum sind heute viel totaler, Geschlechtswirren allesamt: Böschs Puck hadert, ob er nun Junge oder Mädchen sei, und Frauen küssen nicht nur Männer.
So setzen sich die Triebe durch: die Elfenkönigin Titania treibt´s mit dem Esel Zettel, die ungeliebte Helena faucht wie eine böse Katze und die zwei verliebten Jungs machen sich zum Affen - die Redewendung "tierisch verliebt" kommt nicht von ungefähr, das zeigt Bösch in seinem sehr inspirierten, doch ganz und gar nicht lieblichen Sommernachtstraum. Was bei Jorinde Dröses Inszenierung von Viel Lärm um Nichts im Scheppern der Balkankappelle und dem krachigen Stil untergeht, beherrscht Bösch: die Untiefen der Shakespeareschen Komödien auszuloten. Deshalb kalauert es bei ihm seltener.
Die Ironie ist nicht am Ende, doch allein auf sie verlässt sich keiner mehr der Jungen. Tatsächlich, die meisten beherrschen beides: das Als-Ob genussvoll auszustellen und es doch zugleich zu benutzen, um ans Gefühl zu rühren. Florian Fiedler etwa, der sich mit David Bösch den diesjährigen Publikumspreis teilt, ließ sich den romantischen Gehalt der Leiden des jungen Werther nicht entgehen. Und doch durchbrach er oft genug und gerne den dramatischen Schein, traf gerade dadurch den Werther so genau. Er richtete sein Augenmerk auf das Subjekt und seine Repräsentationen: die Briefe, die Musik (Nirvana), die Bilder. Aus dem Porträt, das Werther von der unerreichbar geliebten Lotte verfertigt, wird bei Fiedler ein Ganzkörperabdruck; um das Leben Lottes und Alberts ins Bild zu setzen, genügt, dass die beiden einen bürgerlichen Grundriss auf den Packpapier-Boden pinseln. Doch Wohnen, Essen, Schlafen sind Werther nicht genug, man kennt den Ausgang der Geschichte.
Noch eine Ausnahme: Lisa Nielebock und ihre Inszenierung des Sarah-Kane-Stücks Phaidras Liebe. Nielebocks Arbeit sieht man an, welchen Wert sie auf ihre Schauspieler legt. Schlicht ist die Bühne, stark der Eindruck, den die Menschen auf ihr hinterlassen. Vielleicht war das die radikalste der gezeigten Arbeiten: Weil die Regie darum rang, sich unkenntlich zu machen. Und darin ihre Präsenz gewann.
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