Twitter im Schlagwortkatalog

Bibliothekswesen Die banalen Kurzbotschaften von heute sind das Gold von morgen: Warum die Idee einer kompletten Archivierung von Twitter-Nachrichten nur im ersten Moment abwegig klingt

Menschen, die Twitter nicht mögen, weisen gerne darauf hin, dass sie nun mal nicht interessiere, wer wann auf welche Toilette gehe. Bislang galt es dann stets, das ­aufklärerische Potenzial von Twitter hervorzuheben, um das öffentliche SMS-Netzwerk gegen den Vorwurf der narzisstischen Irrelevanz und der Sinnlosigkeit einer Kommunikation in 140 Zeichen zu verteidigen. Das kann man sich fortan sparen: Die Library of Congress, die größte Bibliothek der Welt, archiviert Twitter ab sofort und rückwirkend vom ersten Tweet an. Für Kulturwissenschaftler etwa dürften gerade ­vermeintliche Nebensächlichkeiten wie Ess-, Trink-, oder Konsumgewohnheiten von großem Interesse sein.

Die Klage – die erwartungsgemäß sofort laut wurde –, dass nun die Banalität in die Bücherhallen einziehe, ist also nicht nur arrogant, sondern auch ignorant: Was würden wir heute nicht alles dafür geben, wenn uns noch ein paar mehr Aufzeichnungen über einen früheren Alltag, etwa im Mittelalter, erhalten geblieben wären? Sind sie erst einmal Teil der Historie, dann können im Zweifel selbst Toilettengewohnheiten helfen, vergangene Zeiten besser zu verstehen. Man denke nur an die Wasserklosetts des „Märchenkönigs“ Ludwig II., die ganz zurecht immer wieder als Beweis seiner Vernarrtheit in den technischen Fortschritt angeführt werden. Obwohl sie zu seiner Zeit womöglich als unwichtiges Detail einer Königsbiografie galten.

Der blinde Fleck wächst

Diese Archiv-Übernahme entspricht schon fast einer Tradition: Die Library of Congress hat bereits vor zehn Jahren ihr „National Digital Information Infrastructure Preservation Program“ gestartet, das dem Zweck dient, die digitalen Inhalte des Netzes für die Nachwelt zu erhalten. Sie gehört damit in eine Reihe von Bibliotheken, darunter auch deutsche, die die Gegenwart besser begreifen, als man von solch per definitionem konservativen Institutionen erwarten könnte. Ihr wichtigstes Ziel wird es nun sein, das Twitter-Archiv für die Forschung handhabbar zu machen, denn gespeichert wird jeder der mittlerweile über 50 Millionen täglichen Tweets ja bereits auf www.twitter.com. Mithin wird die Library die Entwicklung der so genannten semantischen Suche vorantreiben, die Bedeutungen und Zusammenhänge besser erkennen soll und als Zukunft eines stetig schwieriger zu ordnenden World Wide Web gilt, das zwischen dem Körperteil Arm und dem sozialen Status gleichen Namens keinen Unterschied machen kann. Das Twitter-Archiv wird zweifellos als Spielwiese dienen, auf der die Library of Congress die Probe aufs Exempel macht, wie sich durchs Meer eines vollständig digitalisierten Wissens (noch) navigieren lässt. Kaum zufällig gab auch Google vor kurzem bekannt, eine Anwendung für die Suche in Twittertweets entwickelt zu haben. Es heißt „Replay“ und ermöglicht die Recherche nach Schlagworten anhand einer Zeitleiste, die zugleich die Frequenz der Tweets grafisch abbildet.

In den Studien, die auf dem Twitter­-Archiv basieren, werden freilich jene fehlen, die sich dort gar nicht erst äußern. So verschiebt sich der blinde Fleck jeder Geschichtsschreibung: Kamen bislang diejenigen nicht vor, die von den historischen Autoritäten nicht als geschichtsträchtig erachtet wurden, so trifft es nun jene, denen es an einem Internetzugang mangelt. Die Institution Bibliothek, die bislang eine Sammlung von Herrschaftswissen darstellte, mausert sich zur Sammlung von www-Wissen. Diese Vermeidung einer vorgreifenden Wertung unterschiedlicher Speichermedien ist ein kluger, historischer Schritt. Weil die Library of Congress damit anerkennt, dass nicht allein die Qualität der Inhalte, sondern vor allem deren Quantität die Herausforderung der Zukunft darstellt.

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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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