Updaten oder gegenlesen

Medientagebuch "Online first" lautet die Devise moderner Zeitungen; die Umsetzung lässt jedoch zu wünschen übrig

Mit großer Geste gab die Axel Springer AG im November des vergangenen Jahres ihre neueste Devise namens "Online first" bekannt. "Beiträge sind nicht mehr für die Print-Ausgabe des Folgetages reserviert, sondern werden veröffentlicht, sobald sie fertig sind, meist am Mittag oder frühen Nachmittag des Vortags", meldete der Konzern über die konzertierte Aktion der Zeitungen Die Welt, Welt am Sonntag, Welt Kompakt und Berliner Morgenpost.

Längst hatte man eine solche Unternehmung erwartet: Seit das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Oktober 1994 seine Website Spiegel-Online ins World Wide Web hievte - als weltweit erster Zeitungsverlag überhaupt -, führt diese die Liste der Internetpräsenzen deutscher Medien an, selbst bild.de verzeichnet weniger Leser und eine geringere Reichweite als Spiegel-Online. Dass nun auch andere endlich mal ein Stück vom Kuchen der Aufmerksamkeit des WWW genießen wollen, ist wohl nicht nur auf den stetig wachsenden Markt für Online-Werbung zurückzuführen, sondern (hoffentlich) auch auf den journalistischen Anspruch auf Meinungsführerschaft. Nachdem Spiegel-Online im September 2006 seine Site relaunchte - zum mittlerweile siebten Mal - gab es folglich lauter Neustarts zu bewundern: im Dezember von sueddeutsche.de, im Februar 2007 von der Netzeitung und welt.de, im März von focus.de, im Mai von zeit.de und aktuell von tagesspiegel.de. Obwohl letzterer ohnehin bereits "online first" praktizierte, wenn auch eher unfreiwillig: Vergangene Woche landete die mit einer Sperrfrist versehene Agenturmeldung über die Gewinnerin von Germany´s Next Topmodel auf der Website, noch bevor die Sendung auf Pro Sieben gelaufen war. So etwas passiert eben, wenn man die Prozesse zwischen Print und Online oder zwischen Ticker und Online automatisiert.

"Die Web-Seiten des Spiegel mit den neuen Artikeln aus dem Spiegel werden regelmäßig am Wochenende und am Montagmorgen aktualisiert", war 1996 auf Spiegel-Online zu lesen, damals sorgten zwei Redakteure nebenberuflich für den Inhalt der Seite, der aus nicht viel mehr bestand als Artikeln der Print-Ausgabe. Genau diese beiden Dinge dürfen heute nicht mehr sein: Online muss andere Inhalte liefern als Print, und das am besten im Minutentakt. Weil eine Redaktion - auch wenn manche davon in jüngster Zeit deutlich aufgestockt wurden - das kaum leisten kann, wird vielfach auf Agenturmeldungen zurückgegriffen. Von Spiegel-Online abgeguckt hat sich die Süddeutsche dabei das heischende Wörtchen "Eilmeldung", mit dem Nachrichten verziert werden, die, kaum aus dem Ticker gezogen, direkt auf die Seite landen - also ohne, dass ein Redakteur selbst nachrecherchieren könnte. Auch welt.de kann es sich nicht verkneifen, sich als Nachrichtenagentur zu gerieren, und verziert Texte deshalb gerne mit dem Hinweis "update".

Etwas anderes als Klicks soll das nicht bringen, denn die sind das Äquivalent zu den Auflagenzahlen beim Print, sind die Währung im Geschäft mit der Online-Werbung. Wie sich da tricksen lässt und getrickst wird, haben Steffen Range und Roland Schweins in ihrer (kostenlos downloadbaren Studie) Klicks, Quoten, Reizwörter: Nachrichten-Sites im Internet detailliert dargelegt. "Die meisten Portale und wohl auch Zeitungen generieren nicht einmal ein Fünftel ihrer Zugriffe aus originären redaktionellen Texten. Das Gros der Klicks ist dem Einsatz von Bildergalerien, dem Zugriff auf Wertpapierdepots, Partnerbörsen, Aktienkurs-Abfragen, Job-Datenbanken geschuldet, die allesamt in die Klickstatistik einfließen", kritisieren die beiden Autoren. Die zahlreichen Relaunches der jüngsten Zeit dürften ihnen nur ein weiteres Mal Recht geben: Auf den ersten Blick ist einiges übersichtlicher und benutzerfreundlicher geworden, doch auf den zweiten Blick verschwimmen die Grenzen zwischen Journalismus und Anzeigen nur noch mehr, von den Tests, Umfragen und Spielen ganz zu schweigen. Keines dieser Portale interessiert sich auch nur im Geringsten für den Wissenstand seiner Leser über Romananfänge oder Sprichwörter, für ihre Leistungen im Sudoku oder ihre Meinungen zu Schäuble und Paris Hilton; was für sie zählt, weil es sich auszahlt, sind allein deren Klicks.

Natürlich werden deshalb bei jedem Relaunch die Bilder zahlreicher, an origineller Schreibe fehlt es dagegen weitgehend, auch die Formen und Formate erinnern in ihrer Linearität noch sehr ans Gedruckte. Die Möglichkeiten des Netzes bleiben zumeist so unausgelotet wie ungenutzt, von der vermeintlichen Konkurrenz - den Social Communities und Blogs - scheint man wenig gelernt zu haben. Allein welt.de besitzt die Rubrik Zweite Meinung, in der - wenn auch klein und weit unten - auf fremde Seiten verwiesen wird, alle anderen Online-Vertretungen verlinken ausschließlich auf eigene Artikel (und natürlich auf die ihrer Anzeigenkunden), ein Leser, der tatsächlich mehr erfahren möchte, als das jeweilige Organ gerade zu berichten weiß, muss schon selbst wissen, wo er fündig werden könnte.

Wie die Einwegkommunikation abzuschaffen wäre, bleibt - trotz aller Relaunches, denen es ja just darum ging - eine eher ungelöste Frage. Zwar lassen die meisten Artikel Leser-Kommentare zu, nicht wenige davon werden allerdings bald wieder gelöscht - wo eine große Aufmerksamkeit lockt, finden sich eben auch genügend Menschen ein, denen es um nichts anderes geht. Die Ideen des Web 2.0 bereiten sichtlich mehr Probleme als Freude: Während bei sueddeutsche.de die Redaktions-Blogs längst eingeschlafen sind, hat welt.de zwar einige davon und sogar ein eigenes Portal namens Debatte, doch jüngst gab es auch da Ärger. Als Debatte-Chef Alan Posener in seinem Blog in deutlichen Worten über Kai Diekmann, seines Zeichens Oberverantwortlicher der Bild-Zeitung, herzog ("Man kann nicht die Bildzeitung machen und gleichzeitig in die Pose des alttestamentarischen Propheten schlüpfen, der die Sünden von Sodom und Gomorrha geißelt"), verschwand der Beitrag recht schnell wieder von der Seite. Das war dem Springer-Verlag dann wohl doch zuviel des Web 2.0. Statt "online first" heißt die Devise nun also wieder "Gegenlesen first".


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Geschrieben von

Katrin Schuster

Freie Autorin, u.a. beim Freitag (Literatur, TV, WWW)

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