Die meisten meiner Facebook-Freunde sind nicht besonders redselig. Müssen sie auch gar nicht, denn ein Gutteil ihrer Kommunikation erledigt die Plattform an ihrer Statt: Michael* ist jetzt ein Fan von Isarszene und Dieter mit Anika befreundet. Zu Konrad passt am besten die Stadt München, Bettina ist schizophren und Ferdinand ein Lutscher, Torsten wird im kommenden Jahr viel Sex haben und Melanie hat gerade eine Kuh gefunden.
All diese Aussagen wurden automatisch erstellt, nachdem der jeweilige Nutzer hier- oder dorthin geklickt hatte. Michael etwa auf den Button „Ein Fan werden“ und Dieter auf „Freundschaftsanfrage bestätigen“. Konrad, Bettina, Ferdinand und Torsten wiederum haben je eine Quiz-Anwendung benutzt. Und Melanie? Die hat auf „Help Cow“ geklickt, als ihr digitaler Stellvertreter-Bauer gerade ihre virtuelle Scholle beackerte und eine einsame Kuh aus Nullen und Einsen des Weges kam. Melanie spielt Farmville, wie über 73 Millionen andere Facebook-Mitglieder auch, mehr als ein Fünftel aller dort registrierten.
Seitdem sich Facebook im Mai 2007 für die Anwendungen von Drittanbietern geöffnet hat, steigt die Zahl und Vielfalt der Applications. Etwas Besseres hätte dem sozialen Netzwerk nicht passieren können: Die Benutzer von Farmville etwa spielen Bauernhof, indem sie umgraben, säen und ernten, und das am besten alle paar Stunden. Der permanente Traffic von wenigstens 20 Prozent aller Mitglieder wäre damit schon einmal garantiert.
Mimetisch begabte Parasiten
Dass die zweite große deutsche Community StudiVZ nun ebenfalls in die Entwicklung von Applications investiert, während Twitter sich weiterhin schwer tut, seine Nutzer dauerhaft zu binden, weil der Microblogging-Dienst kaum Funktionalität außer seiner selbst zu bieten hat, bedeutet nichts anderes: Wer die mimetisch begabten Parasiten namens „Apps“ willkommen heißt, wird schon bald mit ihnen in Symbiose leben, da man sich gegenseitig nährt. Das iPhone mag ein praktikables Telefon sein, die wahren „Killeranwendungen“ jedoch sind die Apps, die man darauf laden kann. Auch sie werden nur in geringen Mengen von Apple entwickelt, der App-Store ist vielmehr ein weiteres gelungenes Beispiel für crowd sourcing. Theoretisch bekommt die Crowd sogar Geld dafür.
Apps können ungemein praktisch sein, wenn sie die nächstgelegene Bushaltestelle oder den Namen und Interpreten des Songs herausfinden, der gerade irgendwo im Hintergrund läuft. Und sie können ungemein überflüssig sein. Am liebsten stellen sie – wie Farmville in vorbildlicher Weise – klassische Kulturtechniken dar: Ein iPhone kann mithilfe eines Apps zu einer Flöte oder einer Gitarre werden; zum Bierglas oder zum Passanten, den man nach dem Weg fragt; zum Vater, der einem den Krawattenknoten erklärt, oder zur Puste, die eine Kerze ausbläst. Dagegen ist Farmville nur eine Reminiszenz an unsere evolutionären Anfänge und jedes Facebook-Quiz ironisches Zitat der Sehnsucht nach einer eigenen Persönlichkeit.
Wenn der Computer, wie Constanze Kurz vom Chaos Computer Club bereits vor zwei Jahren meinte, „eine Art ausgelagertes Gehirn“ ist, dann bedeutet das iPhone kaum weniger als die Auslagerung der Sinnlichkeit. Kurz gesagt: die eigene Erfahrung mit der Wirklichkeit, in der Gitarre spielen für Hornhaut sorgt und man sich auch einmal verläuft. Das ist kein Grund für Kulturpessimismus, denn solche mehr oder weniger praktischen Prothesen begleiten den Menschen von Anbeginn an – Homo sapiens nannte man ihn schließlich erst, nachdem er seine neuronalen und körperlichen Bedingungen als Einschränkungen begriffen hatte und an deren Aufhebung zu arbeiten begann. Dafür erfand er die Sprache und die Schrift, das Werkzeug, das Geld und alle anderen so genannten Medien.
Seither wächst sein Gehirn nicht mehr, die körperliche Evolution ist weitgehend zum Stillstand gekommen, weil Wissen und Erinnerung zunehmend technisch und medial zur Verfügung gestellt werden. Was freilich nicht ohne Auswirkungen auf unser Bewusstsein bleibt; die Aufklärung und die bürgerliche Kleinfamilie etwa lassen sich ganz wunderbar als Folgen der Erfindung des Buchdrucks erklären. Immerhin täuschen die iPhone- wie die Facebook-Apps über diesen Umstand, dass jede Anwendung immer auch ein Objekt benötigt, nicht mehr hinweg, sondern fragen je brav um Erlaubnis, ob auf das Nutzerprofil zugegriffen werden darf, bevor sie sich auf das Subjekt anwenden. So wird das Betriebssystem des iPhones wie das des Menschen langsam bis zur Unkenntlichkeit überwuchert von Apps. Und von so etwas Prämodernem wie Eigenschaften wird endlich keine Rede mehr sein.
*Alle Namen geändert
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