Am 1. Januar 1984 ging der erste Privatsender unter dem Namen PKS - dem Akronym der Programmgesellschaft für Kabel und Satellitenfunk - auf Sendung, erst exakt ein Jahr später trug er die pole position endlich auch im Namen, als er sich in SAT 1, also: erster deutscher Satellitensender, umbenannte. Was blieb dem Zweiten da schon übrig? Der Luxemburger Radio- und Televisions-Konzern RTL, der sich nur einen Tag nach PKS ins BRD-Privatnetz einschaltete, taufte seinen deutschen Ableger "RTL plus". Das sollte wohl ein Mehr und ein Extra versprechen, wurde jedoch bald wieder getilgt; 1992 strich der Sender das "plus" aus seinem Namen. Seither heißt er auch hierzulande schlicht und einfach RTL.
Eine weise Voraussicht, denn in den Neunzigern machte sich ein sichtlicher Drang nach Multiplikation und Potenzierung breit: Das Deodorant "8x4" erlebte seine wohl besten Zeiten, unter dem Namen Alien3 erschien 1992 der dritte Teil der Alien-Reihe. Erst in den jüngsten Tagen liest man hier und da wieder ein bescheideneres "plus" bzw. "+" - vor allem auf Kosmetika und Hygieneartikeln für Frauen ab 40. Aber auch in der Frankfurter Rundschau, die ihre tägliche Beilage "FR Plus" nannte. Es darf also wieder addiert werden - nur was genau, ist auch weiterhin unklar, der zweite Summand fehlt wie eh und je, das Plus erscheint mithin als pures Zeichen, das ein Außerdem indiziert, welches zumeist unkenntlich bleibt.
Da staunt der Laie, und der Profi wundert sich: Was in deutschen Medien an mathematischen Operationen dargeboten wird, verfolgt meist das allzu offensichtliche Ziel, mit Fakten und unwiderlegbaren Ergebnissen zu überzeugen, wiewohl die zumeist gar nicht darinnen stecken. Was gleichermaßen für die vielen Prozente gilt. Denn wenn die neueste der neuesten Zahnbürsten "100 Prozent mehr Plaque entfernt" und der Joghurt wieder mal "10 Prozent weniger Fett", dafür "33 Prozent mehr Inhalt" hat, wüsste man doch gerne, welche Zahlen die Grundlage hierfür bilden.
Der Focus trat 1993 just mit der 1:100-Formel in den Ring der Nachrichtenmagazine, er hat sich beinahe gänzlich den Tortengrafiken verschrieben. Wo der Spiegel Namen droppt, reiht er Prozente und Ordinalzahlen in Statistiken und Rankings. Wenigstens müssen Kreditanbieter mittlerweile ihre niedrigen, aber recht groß geschriebenen Zinssätze durch die deutlich höheren, aber recht klein geschriebenen Angaben zum effektiven Jahreszins - dem entscheidenden Wert - ergänzen. Nur allzu gerne würde man jedem Leser, Seher, Hörer einen Mathematiker zur Seite stellen, der die reale Aussagekraft diverser Tabellen erläutert.
Im Gegensatz zum %-Zeichen macht der Bruchstrich - obwohl er ebenfalls das Anteilige bezeichnet - gerade schwere Zeiten durch. Halbe Sachen - wie Fellinis 81/2 (1963) oder der Erotik-Blockbuster 91/2 Wochen (1986) - sind längst passé, in den Neunzigern dienten sie höchstens noch der Verballhornung wie bei Die nackte Kanone 21/2 oder später der Benennung sozialer Probleme, wie etwa in dem Film Halbe Treppe. Doch cool ist das nicht. Deshalb werden die neuen Mixgetränke nicht mit Slogans über halbe Zutaten beworben, sondern lieber mit dem "doppelten Geschmack" - entsprechend der neuen Mengenlehre des Two-in-one oder Drei-in-eins oder Alles-in-einem.
Mit dem Shampoo hatte diese Lust an der Multifunktionalität einst angefangen: "Wash and go" nannte sich das damals, versprach "Shampoo und Spülung in einem" und setzte einen nicht mehr aufzuhaltenden Trend. Nachdem man die Spülung nur wenig zuvor trickreich outgesourct hatte, musste sie jetzt dem Shampoo wieder beitreten. Wunderbare Welt der Wiedervereinigung: Nun hatte der Konsument selbst zu dividieren und die Wurzel zu ziehen - schließlich wollten die vielen Funktionen erst einmal aus dem einen erworbenen Produkt herausklamüsert werden.
Nur die dominante Rede vom "2.0" verschiebt die endgültige Bestimmung einer Ware noch ausdrücklicher in die Zukunft. Im Moment ist alles Mögliche mit "2.0" etikettiert, ist alles nur im Beta-Betrieb, was mindestens die Version 2.1, wenn nicht gar 3.0 verspricht. Wenn diese Zahl nicht von vorneherein keinen Sinn hatte - wie Tim Berners-Lee, der Erfinder des Internets, meint - dann wird sie spätestens durch den neuen Die Hard völlig ausgehöhlt. Es ist die vierte Folge dieser Serie, der Film heißt Stirb Langsam 4.0. Warum das so ist, kann vermutlich nicht einmal der Regisseur beantworten (zu Interaktivitäten zwischen Bruce Willis und seinen Zuschauern wird es ja hoffentlich nicht kommen) - es geht eben um Internet und so.
Der wichtigste mathematische Vorgang unserer Tage jedoch ist die Asymptote, die fortgesetzte Annäherung ans Nichts. Die Produkte scheinen zwar in sich multipel differenziert, wollen das aber am liebsten gar nicht zugeben. Nicht nur die neue Einstelligkeit - weswegen der Audi 80 heute A4 heißt - zeugt davon, sondern überhaupt geht die Tendenz arg gegen Null: Der iPod trägt den Nachsatz nano, was die Potenz verkehrt, da nano 10 hoch -9 bedeutet, mithin eine verschwindend geringe Zahl. Coca Cola wiederum nennt sein neuestes Getränk gleich "Coke zero" und die Bekleidungsindustrie erfindet die "size zero". Große Zahlen nimmt dagegen momentan keiner gerne in den Mund. Außer denen natürlich, die das ohnehin nicht so meinen, wie etwa die Damen und Herren, die diese nächtlichen Quizsendungen mit den unlösbaren Fragen moderieren. Ähnlich virtuell ist wohl nur die ewige einmalige Chance. Deshalb nicht vergessen: Am 30. Juni ist schon wieder Wüstenrot-Tag!
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