"Bachmann-Preisträgerin kennt Bachmann nicht", titelte die Netzeitung und erklärte im folgenden Artikel: "Die diesjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig hat sich als Bachmann-Laiin geoutet." Tatsächlich kennt Passig den Namen Ingeborg Bachmanns natürlich schon, nur gibt sie zu, "so gut wie nichts" über die österreichische Schriftstellerin zu wissen. Was ein Unterschied ist. Und von Outing kann ebenfalls keine Rede sein. Die Autorin beantwortete lediglich wahrheitsgemäß eine Frage, die die Netzeitung ihr stellte. Man wollte wohl die Diskussion über Wert und Unwert des Passig´schen Textes am Laufen halten und bediente sich deshalb des dramatischen Vokabulars. Nur so wird man erhört im Stimmengewirr der allgegenwärtigen Debatten.
Oder so: Ein paar Tage zuvor hatte die Zeit die Schriftstellerin Jana Hensel zu Klagenfurt interviewt, anzunehmen: weil man genau wusste, was Hensel sagen würde. "Kathrin Passig hat keine Autorenstimme" urteilte Hensel und wiederholte zudem die als Vorwurf reisende Aussage, dass Passig den Text gezielt für den Bachmann-Wettbewerb geschrieben habe. Als ob das moralisch verwerflich und nur ein Schreiber, dem die Sätze so unbewusst wie zwecklos durch die Finger aufs Papier fließen, ein regelgerechter Künstler wäre. Für die Inszenierung der eigenen Informations- und Meinungsbilungspotenz scheinen demnach allerlei Prämodernismen die dienstbaren Requisiten. Dem Klagenfurter Wettbewerb wiederum misst das eine Relevanz zu, die nicht einmal die Jurymitglieder behaupten.
Nicht, dass man Jana Hensel daraus einen Vorwurf stricken möchte, im Gegenteil: Schön, mal wieder eine deutliche Haltung zu vernehmen, über die sich streiten lässt! Denn furchtbar viele Meinungen, die sich im Grunde nicht unterscheiden, weil sie gar nicht erst von der Sache sprechen, erlebt man stets, wenn wieder einmal eine Debatte proklamiert wird. Einen pointierten, leidenschaftlich rhetorischen Hass sucht man meist vergebens, die Simulationen des Kontroversen dagegen häufen sich und werden meist elend lange künstlich beatmet. Vor allem das Nationale kann nicht aufhören, derart zerredet zu werden. Über die "kurze Geschichte der deutschen Literatur" namens Lichtjahre von Volker Weidermann stritt man mehrere Wochen, die Kategorien der widerstreitenden "Emphatiker" und "Gnostiker", die eigens dafür erneut erfunden wurden, gerannen zu hohlen Worten ohne Realitätsbezug, so dass als einzig eindeutige Aussage allein Maxim Billers herzhaftes "Du bist doch ein richtiges Arschloch!" im Gedächtnis hängen blieb.
Und dann die Kopfstoßdebatte: Die Süddeutsche Zeitung erkannte blitzgescheit eine generelle Sittenverrohung auf dem Fußballplatz und verlangte Besserung: "Das Ziel muss Prävention sein." Die FAS wiederum deutete die Szene als "eine der emblematischsten und faszinierendsten der jüngsten Kulturgeschichte" (so schnell wird mittlerweile die Gegenwart historisiert), Zidanes Kopfstoß habe "die klassischen Themen der Ehrsymbolik virtuos in ein internationales Fußballdrama" umgewandelt. Noch so eine Lüge (jenseits der Frage, ob der Superlativ von "emblematisch" existiert): Jenes "Drama" haben mithin die Medien aufgeführt und beileibe nicht Zidane, dem in diesem Moment nur die vage Hoffnung blieb, dass eben keine Kamera die Szene festhielte. Auf Googles Agenda rangieren derweil längst die Zidane-Materazzi-Filmchen und -Spielchen ganz vorne in der "Zidane Kopfstoß"-Ergebnisliste. So hecheln die Debatten ein ums andere Mal der Wirklichkeit hinterher und wollen gerade deshalb nie enden: Im Glauben, die Realität irgendwann doch noch einzuholen, entfernt man sich weiter und weiter von ihr.
Als Deutschland dem schwarz-rot-goldenen Rausch erlag, witterten zudem nicht wenige Journalisten die Chance, sich beliebt zu machen und erteilten mit großer Geste ihren Segen - als längst niemand mehr nach Erlaubnis fragte. Aus der Deckung der Masse getraute sich fast keiner, zu groß die eitle Sehnsucht, mehr als nur Statist auf der nationalen Bühne zu sein, zu einfach, eine Mehrheit hinter sich zu wissen, ohne sich weitere Gedanken zu machen. Endlich mittendrin in der Zielgruppe statt nur dabei! Eine gefährliche Verwechslung von Nachdenken und Nachtreten: In den immergleichen Meinungsdemonstrationen bricht sich - wie schon in der Passig-Debatte - oft genug ein reaktionäres Ressentiment Bahn - gleichsam als billiges Placebo für die nicht vorhandene kritisch-reflektierende Haltung.
Folgerichtig avancierte Zidane zum heimlichen Helden. In der Kopfstoß-Debatte wurde eine seltsame Faszination für die Tat lesbar, mit der Zidane auf die Worte Materazzis reagierte. Als wäre das eine annehmbare oder gar angemessene Reaktion. Vielleicht weil ein Italiener das Opfer war, einer dieser leichtfüßigen Schlawiner mit Chuzpe, auf die man hierzulande mit verbotenem Neid schielt? Ach, seufzte der Feuilletonist, die Unterschicht weiß eben noch, wie man Konflikte handhabt! Die Herkunft wird man nicht los, heißt das. Nicht einmal als Millionär.
Doch im Zweifelsfalle können auch ehrenwerte Bürger anders als rhetorisch. Zum Beispiel Matthias Matussek in einer Sendung des ARD-Presseclubs, die den neuen Patriotismus besprechen wollte. Als Roland Tichy, der stellvertretende Chefredakteur des Handelsblatts, Matussek des "engstirnigen Nationalismus" zeihte, gingen dem Kulturressortleiter des Spiegel die Worte und die Pferde durch. "Unverschämt!" rief er, und auch im weiteren fehlten ihm die Argumente. Nach dem Abschalten der Kameras soll Matussek Tichy noch mal bedrohlich angepackt haben: "Sie sind ein ganz linker Finger! Sie mache ich fertig!". So also enden Kritiker, die sich zu schnell um sich selbst drehen und denen im Schwindelgefühl die Realität verschwimmt. Die Tatsachen, die man auf diese Weise schafft, dürften über kurz oder lang den eigenen Arbeitsplatz überflüssig machen.
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