Bitte kein Genderama!

Zukunft der Jungs Blogger Arne Hoffmann möchte mit seinem Zehn-Punkte-Plan "unsere Söhne retten". Leider fehlt ihm dabei das nötige Gender-Bewusstsein. Die Welt wird er so nicht verbessern

Das Buch „Rettet unsere Söhne – wie den Jungs die Zukunft verbaut wird und was wir dagegen tun können“ von Arne Hoffmann ist kurz zusammengefasst: Viel Halbwissen, das um eine gute Portion gefühlten Dreiviertelwissens ergänzt, zu einer ganz besonderen Melange aus guten Gedanken und absurdem Mist wurde. Zum Beispiel das „Zehn-Punkte-Programm“ zur Rettung „unserer“ Söhne, dessen erster Punkt fordert: „Unsere Kindergärten und Schulen müssen jungengerechter werden“:

Hoffmann schreibt: „Jungen entwickeln sich in bestimmten Bereichen später als Mädchen.“ Nach jetzigem Kenntnisstand der Neurobiologie werden Mädchen und Jungen in der Tat mit leichten Unterschieden in ihren Gehirnen geboren. Mädchen kommen oft – salopp gesagt – „stabiler“ auf die Welt. Ihre Gehirnhälften sind anders vernetzt. Jungen sind dagegen empfindlicher. Sie brauchen mehr Nähe, Halt, Liebe. Möglich, dass mit der unterschiedlichen Struktur auch die unterschiedliche Disposition zum Lesen und zum Sprechen einhergeht. Leider handeln viele Eltern verstärkend: Studien zufolge lesen sie kleinen Jungen weniger vor, als kleinen Mädchen.

Das Gegenteil wäre nötig, um – ich benutze ausnahmsweise einmal Hoffmanns Theatralik – die Jungen zu retten. Stattdessen werden Jungen bis heute mit den Geschlechtsrollenzuschreibungen ihrer Eltern und später ihrer Erzieher(innen) und Lehrer(innen), in ein Schema aus Mut, Härte, Wettkampf und Aggression gedrängt. „Jungen brauchen das.“ Oder „Bei Jungen ist das normal.“ Niemand merkt neben diesem unbewussten Verstärken, welche Self-Fulfilling Prophecy hier greift. Aus seiner zunächst richtigen Einleitung erliegt der Autor genau dieser, wenn er – den Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann zitierend – weiter schreibt:

„Eine wichtige Komponente wäre das Zulassen männlicher Eigenarten und Absonderlichkeiten im Unterricht um die Jungen ‚dort abzuholen, wo sie gerade stehen‘. Sie müssen Gelegenheit haben, als machtvoll und überlegen aufzutreten, den sozialen Raum um sich herum zu erobern und die besonderen Formen der männlichen Selbstbehauptung zu praktizieren.“ Der erste Satz ist nicht falsch. Der Rest dieses Zitats, das so völlig unkommentiert stehen bleibt, weswegen ich Hoffmanns uneingeschränkte Zustimmung unterstelle, ist eine Zumutung. Ein Autor, der sein Blog „Genderama“ nennt, sollte sich besser und intensiver mit dem aktuellen Forschungs-Stand der 30 Jahre alten Disziplin Gender Studies auseinandersetzen. Dann wüsste er: Die unreflektierten Erwartungshaltungen an Jungen und Mädchen sind des Pudels Kern.

Dennoch spricht Hoffmann einen wunden Punkt deutscher Erziehungsinstitutionen an: ein Aggressions- und Lärm-Tabu. „Wilde“ Kinder werden geradezu stigmatisiert, weil ihr Verhalten im frontalunterrichtbasierten Lehr-Lern-Alltag „unpassend“ ist. Am Unterricht muss also gearbeitet werden – ebenso wie an der Einstellung der Lehrer und Lehrerinnen. Zum Beispiel durch die „Synthetic Phonetics“-Technik, bei der zuerst die Buchstaben und deren Laute erlernt werden, um die Fähigkeit des selbstständigen Schreibens und erst im letzten Schritt des Lesens zu erwerben. Hoffmann führt sie auch an. Doch irgendwie sonderbar, in einem Buch, das „unsere Söhne zu retten“ soll, von einer didaktischen Methode zu lesen, die seit gut 30 Jahren bei beiden Geschlechtern gleich gute Erfolge erzielt und schon von meiner Schwiegermutter vor Jahrzehnten in der Grundschule angewandt wurde.

Punkt eins des Sofortprogramms ist symptomatisch für Hoffmanns Dilemma: Der Genderama-Blogger hat tatsächlich einige progressive Denkansätze – was erstaunlich ist, da ihm der Blick für das „Gesamtkonzept Gender“ insgesamt abgeht. So kommt er leider nicht zur Wurzel des Problems. Er müsste ein Bewusstsein für die immer noch konstitutiven Geschlechtsrollen-Erwartungen und ihren –Entsprechungen entwickeln. Ohne ein Reflektieren dieser Kategorien in Eltern-, Erzieher- und Lehrer-Köpfen wird es nicht gehen.

Was Hoffmann tatsächlich helfen könnte, nicht nur die Söhne, sondern auch die Töchter zu „retten“, ist eine Herangehensweise an Kinder, wie sie schon seit 1906 – seit über hundert Jahren – in der Montessori-Pädagogik zu finden ist: Erziehung vom Kinde aus – und nicht von den eigenen (Geschlechtsrollen-)Erwartungen. Deswegen bleibt es sinnvoller, Autorinnen wie Hannelore Faulstich-Wieland zurate zu ziehen, wenn man wirklich wissen will, was man „dagegen“ tun kann.

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Geschrieben von

Katrin Rönicke

ich bin... einfach so; ich bin nicht... so einfach

Katrin Rönicke

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