Kanzlerin der Pragmatischen?

Nachwuchs Ähnlich wie bei Helmut Kohl können sich junge Menschen kaum noch an jemand anderes im Kanzleramt erinnern
Ausgabe 47/2016
Im Pariser Musée Grévin ist sie längst gut aufgehoben
Im Pariser Musée Grévin ist sie längst gut aufgehoben

Foto: Loic Venance/AFP/Getty Images

Als Helmut Kohl 1998 nach geschlagenen 16 Jahren als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland abgewählt wurde, atmeten viele junge Menschen auf, die seit ihrer Kindheit – in meinem Fall sogar genau seit meiner Geburt – nichts anderes gekannt hatten als Kohl als Regierungschef. Und es hat uns furchtbar angekotzt, aber selbst 1998 durften viele von uns noch nicht wählen. Insofern verband sich mit Kohl damals auch ein Gefühl des Ausgeliefertseins.

Von diesem Bild unterscheidet sich die Aussicht immens, eventuell bald 16 Jahre mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel gelebt zu haben. Diese Kanzlerin repräsentiert eine Politik, die sowohl mit der Brexit-Entscheidung im Juli als auch mit dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA empfindliche Niederlagen erlitten hat. Und es waren dabei vor allem die Älteren, die für das kurz zuvor noch Undenkbare votierten: einerseits den Austritt Großbritanniens aus der EU, andererseits den Einzug eines rassistischen Milliardärs ins Weiße Haus. Hätten allein junge Leute beide Entscheidungen zu treffen gehabt, wäre das alles 2016 nicht passiert. Die Äußerungen der Kanzlerin nach Brexit und Trump-Wahl ließen bei aller Diplomatie keinen Zweifel daran, dass sie weder die eine noch die andere Entscheidung begrüßte. Stellt sich die Frage: Passt Angela Merkel etwa genau zu diesen jungen Leuten, die für Offenheit und Zusammenarbeit statt Abschottung und Nationalismus sind?

Die Shell Jugendstudie unter der Leitung des Soziologie-Professors Klaus Hurrelmann untersucht alle fünf Jahre, wie die 12- bis 25-Jährigen in Deutschland ticken. Was haben sie für Werte? Wie stehen sie zur Politik? Wie zur Welt? 2015 zeigte diese Studie ein Bild von einer Jugend, die vor allem pragmatisch handelt, die anpassungsfähig ist und Chancen dann ergreift, wenn sie sich bieten. Die Macher der Studie sprechen von einer „Generation im Aufbruch“, die „zupacken, umkrempeln, neue Horizonte erschließen“ wolle und dabei auch bereit sei, Risiken einzugehen.

Es ist keine Null-Bock-Generation, wie man noch die Jugendlichen der 80er nannte. Und auch keine „Generation Golf“, wie sie der Autor Florian Illies beschrieb, die bloß den Wohlstand genießen, ansonsten aber ihre Ruhe haben wollte und die Welt nur durch einen dicken Puffer Harald-Schmidt’scher Ironie wahrnahm. Nein, 2015 waren Jugendliche stärker politisch interessiert als noch 2002: 41 Prozent insgesamt, und das zeigt sich in einem verstärkten Aktivismus, im Einsatz für Menschenrechts- oder Umweltorganisationen. Nur mit Parteien können die Jungen immer noch nichts anfangen, das Vertrauen in deren Arbeit ist gering. Ebenso wie das in Kirchen, große Unternehmen und Banken.

Im Interview mit Anne Will zeigte Merkel sich am vergangenen Sonntagabend von einer sehr nachdenklichen Seite, betonte immer wieder, dass sie lange das Für und Wider abgewogen habe. Sie habe sich gefragt, ob sie das könne, und sie habe gespürt: Sie sei noch stark und neugierig genug, sich der Aufgabe zu stellen. In der anschließenden Debatte hat sich niemand über dieses – für eine Politikerin eigentlich ungewöhnliche – „neugierig genug“ gewundert, das Merkel als ein zentrales Kriterium für ihren Entschluss anführt. Dabei sendet es ein klares Signal, nur wer soll es empfangen?

Jene Menschen, die auf der Kippe zwischen AfD und Union stehen? Nein, denn die wollen „keine Experimente“ – ein Slogan, mit dem die CDU im Landeswahlkampf in Berlin noch im September plakatierte. Und krachend scheiterte. In einer Stadt, in der Ewiggestrige immer schon scheiterten. Ist es Zufall, dass gut 60 Prozent der Berliner unter 45 Jahre alt sind?

Merkels Politik steht anders als die der Herren der 80er und 90er aus ihrer Partei nicht für Filz und gesellschaftlichen Stillstand. Man sagt ihr zwar seit Amtsantritt nach, sie würde Probleme aussitzen, doch sowohl beim Ausstieg aus der Atomkraft als auch vergangenen Sommer in der Flüchtlingspolitik überraschte sie viele mit dem Revidieren vorangegangener Positionen und ihrer plötzlichen politischen Klarheit. Sie formuliert Regeln und Leitlinien – wenn es sein muss. Und sie hat damit den Rahmen der konservativen CDU/CSU verschoben.

Bürgergespräche auf Youtube

So manche witzeln, dass sie genauso gut eine Kanzlerkandidatin der Grünen sein könnte, denn sie stünde für Umweltschutz genauso wie für Gleichberechtigung, und für eine offene und verantwortungsvolle Haltung in der Flüchtlingsfrage – so zumindest die öffentliche Wahrnehmung, wenn auch zugleich eine harte EU-Abschottungspolitik verfolgt wird, die Merkel aber nicht im selben Maße zugeschrieben wird wie die Grenzöffnung im September 2015.

Nur für was steht sie eigentlich darüber hinaus? Den meisten Menschen fallen da schon gar nicht mehr so viele Sachen ein, aber das macht offenbar nichts, denn zentrale Erwartungen erfüllt die Kanzlerin eben schon: Weltoffenheit, keine westdeutschen Allüren und in ihrer Bescheidenheit ein Gegenentwurf zur Brioni-Champagner-Dekadenz der Schröder-Fischer-Jahre.

Im Sommer 2015 sprach Merkel mit dem Youtube-Star LeFloid, um auch mit jungen Menschen mehr in Kontakt zu kommen. Das war Teil einer Tournee durch das Land, während deren sich die Kanzlerin – meist ohne größeres Aufsehen in der Öffentlichkeit – den Fragen junger Leute stellte. Viel besser als LeFloid moderierte das übrigens Felix Seibert-Daiker, seines Zeichens Kika-Moderator. Er hakte immer wieder nach, und wer die ganze Sendung im Livestream sah, konnte sehen, wie Merkel dabei oft ins Schleudern kam. Bekannt geworden ist aus dieser Diskussion aber nur die Szene, in der die Kanzlerin das Flüchtlingsmädchen Reem unbeholfen streichelte, als dieses zu weinen anfing ob der ungewissen Aussichten, in Deutschland bleiben zu können.

Seitdem hat sich vieles verändert, Merkel hat die Veränderungen hingenommen und auch zu gestalten versucht. Im Gespräch mit Anne Will betonte sie, dass sie in allen Situationen zunächst gründlich nachdenke und dann entscheide. Ihre Themen: die Digitalisierung mit ihren Herausforderungen an die Arbeits- und Sozialpolitik, die Flüchtlingsströme weltweit, der Aufstieg der Populisten in der westlichen Welt. Auch kündigte sie an, die aus dem Blick geratene Gruppe der von der Gesellschaft abgehängten Menschen wieder einbinden zu wollen. Und sie sprach von lebenslangem Lernen – die Erkenntnis, dass Bildung der wichtigste Schlüssel gegen die Spaltung der Gesellschaft ist, scheint sie also gehabt zu haben.

Damit knüpft sie an einen der wichtigsten Wünsche junger Menschen an: In der großen „Generation What?“-Studie von 2016 gab mehr als die Hälfte der Befragten an, dass das deutsche Bildungssystem eben nicht allen die gleichen Chancen gebe. Nur sechs Prozent finden, dass dies stimmt. Bildung ist das Damoklesschwert, das über der deutschen Politik baumelt – jahrzehntelang ignoriert oder zwischen den Kultusministern der Länder zerrieben.

Bildung und Digitalisierung sind die Herausforderungen der Zukunft. Bewahren geht nicht mehr, dafür sind die Kräfte der Veränderung zu groß. Wer nur bewahren will, wird von den Entwicklungen überrollt. Dass sie das verstanden hat, rückt Merkel zusammen mit ihrem Pragmatismus vielleicht näher an die jüngere Generation als an manche ihrer eigenen Altersgenossen.

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Geschrieben von

Katrin Rönicke

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Katrin Rönicke

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