Pfunde sind politisch

Feminismus Die Gesellschaft gibt Frauen keinen Raum für vermeintliche Makel. Es wird Zeit, dass sich das ändert
Ausgabe 10/2015

Gestatten: Ich bin Feministin.Wenn ich diese Selbstbezeichnung wähle, dann ernte ich oft Verwunderung, Belustigung und manchmal auch Ablehnung. Feminismus, so denken viele, ist spätestens jetzt überflüssig, lächerlich, aberwitzig. Für manche ist die Sache mit der Emanzipation der Frauen sogar schon zu weit gegangen. Das alles würde ich zu gern glauben und mich anderen Dingen im Leben zuwenden. Aber dann merke ich, dass uns Frauen immer noch ein zentrales Recht fehlt: Das Recht, ein Mängelwesen zu sein. Da steht ein kleines Kind vor mir, gerade fünf Jahre alt geworden, und es erklärt mir, dass es seine beste Freundin deswegen am liebsten mag, weil sie so schön ist. Dieses Kind ist meine Tochter.

Gefährliches Körperdiktat

Schönheit spielt im Leben meiner Tochter schon jetzt eine sehr wichtige Rolle. Dabei kann ich nicht genau sagen, woher das kommt. Es hat sich in unser Leben geschlichen. Vielleicht kam es mit dem Disney-Film Die Eiskönigin. Er zeichnet sich immerhin als erster Disney-Prinzessinnen-Film dadurch aus, dass er nicht mehr nach dem altbekannten Schema funktioniert: Prinzessin und Prinz treffen sich, verlieben sich, alles ist megakompliziert und gefährlich, aber am Ende wird geheiratet. Immerhin ein Fortschritt.

Was Disney aber immer noch nicht geschafft hat: dass die Frauen in diesem Film einen normalen Körperbau haben. Die Prinzessinnen in Disney-Filmen dürften von der Figur her sehr stark Barbie ähneln, die seit Generationen kleinen Mädchen als erste Schönheitsnorm in Plastik geschenkt wird. Wissenschaftler haben Barbies Proportionen untersucht und herausgefunden, dass sie so wenig Hüfte und so wenig Muskeln in den Beinen hätte, dass sie bei ihrer Größe und ihrem Brustumfang vermutlich nicht menstruieren könnte, auf allen vieren herumlaufen müsste, und außerdem wäre sie mit einem geschätzten Body-Mass-Index von 16 anorektisch, magersüchtig. Aber muss ein Spielzeug denn unbedingt realistische Frauenformen nachbilden?

Natürlich nicht! Die Lieblingspuppe meiner Tochter, sie heißt Lellie und hat Wursthaare, hat einfach gar keine Proportionen. Was an Barbie so gefährlich ist, das ist etwas anderes. Es drückt sich in der Reaktion meiner Tochter auf den Versuch des Künstlers Nickolay Lamm aus, eine alternative Plastikpuppe zu schaffen. Eine mit dem Körper einer amerikanischen Durchschnittsfrau. „Lammily“ heißt sie. Sie kann stehen, sie hat Arme statt Streichhölzern und man kann sie Sport machen lassen. Am Computer sahen wir uns die Bestellseite der Normalo-Puppe an und Töchterchen befand trocken und enttäuscht: „Ich finde die nicht schön.“ Es sind diese kleinen Dialoge mit meiner Tochter, die mich sehr ratlos stimmen. Was wird passieren, wenn sie entscheidet Germany’s Next Topmodel gucken zu müssen? Millionen Menschen fiebern von Woche zu Woche mit, wie junge Mädchen sich bewerten und abwerten lassen, wie sie sich anpassen und zurechthungern.

Ja: Frauen hungern sich zurecht. Ein ehemaliger Professor von mir berichtete einmal, dass er nun wisse, wie eine gewisse Bundesministerin es schaffe, so schlank zu sein. Er sei mit ihr in einem sehr guten Restaurant essen gewesen und sie habe nur einen Salat bestellt. Das ist kein Einzelfall. Unsere Kanzlerin, die für und gegen alles als „Gegenbeweis“ herhalten muss, was der Feminismus als gesellschaftliches Problem anprangert, mag da anders ticken und auf Äußeres genauso wenig geben wie auf arrogante Kerle in ihrer Partei. Fakt ist aber, dass Frauen in Führungspositionen und in der Öffentlichkeit starken, sie prägenden Normen unterworfen sind. Sind sie übergewichtig, werden sie seltener eine steile Karriere machen. Die Journalistin Susanne Klingner schrieb dazu in einem Artikel in der Zeitschrift Cosmopolitan: „Frauen, die weniger wiegen, verdienen mehr. Was erst einmal nach dem Bauchgefühl einer verbitterten Feministin klingen mag, lässt sich durch Zahlen belegen.“ Die Statistik zeigt, dass Gewicht und Gehalt korrelieren: Wenn eine Frau 25 Pfund abspeckt, kann sie in den USA bis zu 16.000 Dollar mehr verdienen. Nimmt sie 13 Pfund zu, kann das zu 9.000 Dollar weniger Gehalt führen. Bei Männern existiert das Schlankheitsgebot nicht. Im Gegenteil: Je höher der Rang, desto mehr Gewicht bringen sie auf die Waage, denn für Sport ist weniger Zeit, und das Geld, das man für Restaurantbesuche ausgeben kann, vermehrt sich. Männliche Politiker sind nicht selten übergewichtig. Das hat auch Vorteile: Sie nehmen sich Raum, und ihrer Stimme wird ein großer Klangkörper gegeben. Haut so einer mit der Faust auf den Tisch, dann strahlt er Macht und Entschlossenheit aus. So kommt es, dass noch 2005, kurz vor der Bundestagswahl, eine Mehrheit in einer ZDF-Umfrage angab, lieber einen Mann als Regierungschef und Kanzler zu wollen. Einer Frau traut man manches weniger zu. Und daran ist auch ihr Äußerliches mit schuld, das schönheitsnormenbedingt dazu neigt, sich dünne zu machen. Eine fette Frau hingegen gilt als undiszipliniert. Fett ist politisch.

Armutsrisiko Kinder

Neben den starren Schönheitsnormen und Rollenstereotypen, die bis heute auf nahezu jede Frau wirken, gibt es auch noch die Möglichkeit, schwanger zu werden. Und so traurig das klingt: Diese Möglichkeit ist für Frauen im Jahr 2015 immer noch ein Menetekel, weswegen viele Frauen die Sache weit hinauszögern, andere lassen es gleich ganz bleiben (etwa 40 Prozent der Akademikerinnen sind kinderlos). Der Autor Malte Welding spricht von der „Kein-Kind-Politik“ Deutschlands. Seiner Recherche nach antizipieren Frauen verschiedene Szenarien, die alle statistisch belegt werden können: Wenn sie Kinder bekommen, werden sie im Schnitt weniger arbeiten und deswegen auch seltener befördert. Der Arbeitsmarkt dankt es ihnen mit einer Lohnungleichheit von derzeit 22 Prozent. Männer, die frisch zum Vater geworden sind, tendieren dazu, die Panik zu bekommen und sogar mehr zu arbeiten, da sie nun ein Maul mehr zu stopfen haben. In vielen Ehen, so zeigen Langzeitstudien, zieht nach anfänglicher Bekenntnis zur Gleichberechtigung mit zunehmender Dauer die alte Geschlechterordnung ein: Sie macht den Haushalt, er macht Karriere. Das ist gefährlich. Sowohl bei den Alleinerziehenden-Haushalten als auch bei Familien, in denen zwei Erwachsene leben, nimmt das Armutsrisiko mit steigender Kinderzahl zu. Wenn Eltern sich aber trennen und sich weiterhin gegen eine gleich verteilte Verantwortung entscheiden, trifft den sorgenden Teil (ein Kind) ein Armutsrisiko von fast 25 Prozent. Bei denen mit zwei Kindern steigt es auf 26,5 Prozent. Am höchsten ist mit 42,0 Prozent die Armutsgefährdung der Alleinerziehenden-Haushalte mit drei oder mehr Kindern.

Alleinerziehende, das sind nur zu etwa 14 Prozent Männer. Die Gründe sind sehr unterschiedlich, und vieles basiert auf den typischen „individuellen“ Entscheidungen. Aber es steht ein Muster dahinter: Bis heute gilt die Mutter als der „wichtigere“ und sogar der „bessere“ Elternteil. Was wie ein Kompliment klingt, ist eine Falle. Barbara Vinken drückt es so aus: „Man hat vom 20. Jahrhundert als dem ,Jahrhundert des Kindes‘ gesprochen. Und ich würde auch sagen, in Deutschland haben wir das eigentlich noch getoppt: dass nämlich das Kind und nichts anderes mehr das Projekt für die Mutter geworden ist.“ 49 Prozent der Deutschen sind einer Umfrage der Statista GmbH zufolge der Meinung, Mütter sollten bei ihren Kindern zu Hause bleiben und diese rund um die Uhr betreuen. Niemand erwartet das von einem Mann. Das Projekt Kind ist in der großen Mehrheit der Familien ein Projekt der Mutter. Für das Kind opfert sie im Durchschnitt bereitwilliger und mehr, als es der Durchschnittsvater tut. Sie nimmt mehr Elternzeit und bleibt länger dem Beruf fern, weswegen sie häufiger den Anschluss verliert. Sie tut das, denn scheitert das Kind, ist das ihr Scheitern.

Und so biegen sich Frauen zurecht zwischen den unterschiedlichsten Ansprüchen, die sich alle in den üblichen Frauenzeitschriften und Ratgebern niederschlagen: sexy wie der Star auf dem Titel der Vogue, schlank wie frisch nach der Brigitte-Diät, erfolgsorientiert wie Sheryl Sandberg, eine tolle Liebhaberin wie Anastasia Steele und am Ende eine Super-Mom, die viel Zeit mit ihrem Kind verbringt. Und immer versagen sich Frauen dabei etwas: Genuss, Selbstverwirklichung, Raum und das Recht, ein Mängelwesen zu sein.

Ich bin Feministin, weil ich das alles nicht will. Ich will, dass meine Tochter Schönheit nicht mit Maßen verbindet. Ich will, dass „Vereinbarkeit“ keine Lüge mehr ist. Ich will, dass sie sich den Raum nimmt, der Männern ganz selbstverständlich gegeben wird – egal ob sie dick oder dünn, groß oder klein, Mutter oder kinderlos, brünett und weiblich oder blond und burschikos ist. Kurz: Ich will, dass Männer und Frauen sich gleichermaßen um das Soziale, das Ökonomische und das Politische in der Gesellschaft kümmern. Hand in Hand.

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Geschrieben von

Katrin Rönicke

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