Wenn es um die Aufstiegsmöglichkeiten in unserer Gesellschaft geht, dann hängt ein großer Teil davon ab, welche Bildung ein Mensch hat. In Deutschland ist das alles streng geregelt. Die Anforderungen der Leistungsgesellschaft kann erfüllen, wer Kompetenzen und Zertifikate nachweist. Und zertifiziertes Wissen beginnt praktisch erst mit der Mittleren Reife. Wer auf die Hauptschule gegangen ist, wer in Berufsförderungsmaßnahmen lebt, gilt als „bildungsarm“.
Um diese Gruppe jedoch kümmert sich die deutsche Bildungspolitik keinen Deut – allen hochtrabenden Debatten des vergangenen Jahrzehnts zum Trotz. Die Grundfrage bleibt ungelöst: Was ist uns die Abschaffung des sozialen Aussiebens vom Kindergarten bis zur Hochschule wert und welche gemeinsamen Anstrengungen sind nötig, sie zu bewältigen?
Der Begriff der Bildungsarmut wurde 1999 von der Soziologin Jutta Allmendinger geprägt. Noch vor der ersten PISA-Studie wies sie darauf hin, dass die Bildung eine genuin sozialpolitische Bedeutung für Teilhabechancen hat. Bildungsungerechtigkeiten galten also einst als soziales Problem, das einer politischen Lösung bedarf. Mittlerweile ist der politische Konsens darauf beschränkt, dass Leistung belohnt werden muss. Damit einher geht die Zuschreibung, dass Leistungsdefizite und Versagen individuell selbst verursacht sind. Es ist das Paradigma non-egalitärer Politik.
Keine Bildungsgerechtigkeit in Deutschland
Ausgerechnet die OECD, die sich weltweit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung widmet, moniert die deutschen Zustände vehement. Seit 2000 führt die internationale Vergleichsstudie PISA deutlich vor Augen, dass Bildungsgerechtigkeit in Deutschland quasi nicht existiert. Die Kritik trifft auch das ideologische Rüstzeug der jetzigen Regierungskoalition, die sich ihrer Wirtschaftskompetenz zu rühmen nicht müde wird. Ausgerechnet das von ihrer Klientel so geliebte Aussieben in der Schullaufbahn soll unwirtschaftlich sein, ökonomisch schädlich, ein Entwicklungs- und Innovationshemmnis!
Reaktionen gab es zwar auf den PISA-Schock. Schon 2004 sagte die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD): „Wir müssen uns fragen, ob die frühe Auslese von zehnjährigen Kindern der richtige Weg ist.“ Sie war überzeugt, dass mittel- und langfristig die Dreigliedrigkeit des Schulsystems überwunden werden muss. Doch 2005 zog ein neuer Wind in das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein. Die erste Regierung Merkel löste Rot-Grün ab. Die kurze Zeit zwischen Bulmahns „Erkenntnis“ und dem Regierungswechsel reichte nicht aus, um eine deutschlandweite Grundwertedebatte in der Bildungspolitik auszulösen.
Mit dem Einzug der damaligen baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan (CDU) starb die bundesweite Debatte über die Mehrgliedrigkeit und beschränkte sich fortan auf einzelne Bundesländer. Berüchtigt wurde der „Schulkampf“ in Hamburg, bei dem die Gymnasial-Lobby als Gewinner hervorging. Das wundert nicht – selbst für Bildungspolitiker der Grünen in Berlin ist und bleibt das Gymnasium eine heilige Kuh. Für die FDP ist das Konzept „eine Schule für alle“ Sozialismus – wie die Liberalen ja sowieso eine ganz eigene Meinung zur sozialen Gerechtigkeit haben. Mit der CDU, die ausweislich der Doktorabeit der heutigen Familienministerin Kristina Schröder ebenfalls tief non-egalitär ist, passt das gut zusammen. So passierte trotz anhaltender Kritik der OECD auf dem Gebiet der sozialen Durchlässigkeit und Gerechtigkeit im Bildungssystem erst einmal: nichts.
Inhaltlich ein Witz
Im Mai 2012 nun holte Schavans Ministerium zum großen Wurf aus: „Bildungsbündnisse“ sollen gegen Bildungsarmut helfen. Ausnahmsweise soll es also um die Abgehängten gehen. Das kommt aber nicht nur ein bisschen spät – gut 40 Jahre, nachdem Bildungs-Vorbildland Finnland sein gegliedertes Schulsystem über Bord geworfen hat. Inhaltlich ist das Programm ein Witz.
Die sogenannten Bildungsbündnisse sind nämlich nicht etwa Bündnisse zwischen Bund und Ländern, um benachteiligte Kinder und Jugendliche an ihren Schulen besser zu fördern und zu integrieren. Es sind auch keine zwischen dem Ministerium und den Hochschulen, die das Lehrpersonal ausbilden – etwa um Lehrer auf die Bedürfnisse dieser Kinder und Jugendlichen vorzubereiten. Nein: Es sind Bündnisse zivilgesellschaftlicher Akteure, derer sich Ministerin Schavan hier rühmt. Sie agieren außerhalb der Schulen. Sie sollen eine Förderung erhalten, wenn sie ein Auswahlverfahren beim Ministerium erfolgreich absolviert haben. Über die Höhe der Zuwendung ist derzeit allerdings nichts bekannt.
Daneben gibt es schon seit 2008 die „Qualifizierungsinitiative“. Sie fußt im Wesentlichen auf drei Bausteinen: Erstens soll ein „Aufstiegsstipendium“ jungen Leuten mit Berufsausbildung ein Studium ermöglichen. Der zweite Baustein ist das wundervolle Bundesausbildungsförderungs-Gesetz, kurz BAföG. Aber dazu gleich noch mehr. Und der dritte Baustein sind Kampagnen, um mehr Frauen für sogenannte MINT-Studiengänge und -Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zu begeistern. Die Initiative richtet sich somit an Frauen, die ohnehin eine akademische Laufbahn anstreben, an Studierende und an die Crème de la Crème derjenigen, die nicht studieren – also nicht an Bildungsarme. Dieses Handeln ist typisch für das Bundesministerium: Mit einem Tunnelblick auf Exzellenz werden die prekären Teile der Gesellschaft ausgeblendet. Prestige statt Prekariat.
Nur schöne Worte
Dabei soll „Integration durch Bildung“ eines der Kernthemen sein. Die Integrationskonferenz bei Angela Merkel hat dies als entscheidenden Faktor identifiziert. Als Konsequenz dieser Erkenntnis wurde immerhin die Sprachkompetenz-Förderung von Kindern beim Start in die Schule eingeführt – wenn auch in den Ländern unterschiedlich. Der Erfolg dieser Maßnahmen wird vermutlich erst in einigen Jahren messbar sein. Weitere Aktivitäten gibt es nicht – dafür viele schöne Worte.
Die allgegenwärtige und willkommene Ausrede: Bildungspolitik ist Ländersache. Es gibt sogar offiziell ein „Kooperationsverbot“. Wie praktisch. Ausnahmen von diesem Verbot können nur einzelne Projekte sein. Eine punktuelle Förderung durch Bundesmittel ist möglich. Schavan engagiert sich vor allem in der Hochschulfinanzierung und setzt auch hier einen eigenen Schwerpunkt: mehr Geld für Exzellenz. Die Spitze der „Exzellenzinitiative“ und ihr Aushängeschild sind die nun auch in Deutschland anzutreffenden Elite-Universitäten. Ganz unverhohlen dienten Oxford, Cambridge und Harvard als Vorbilder: Das brauchen wir! Ein „Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin“ soll bald als Visitenkarten- und Lebenslauf-Pimp gelten. Die Exzellenzinitiative kostet den Staat jährlich 600 Millionen Euro.
Mit der Breitenförderung sieht es dagegen mau aus. Für das Studierenden-BAföG gab der Staat vergangenes Jahr gut 3,5 Milliarden Euro aus – bei gut 650.000 Beziehern. Also durchschnittlich 452 Euro. Zwar lag die Summe erstmals über drei Milliarden. Doch Grund war nur der berüchtigte Doppeljahrgang aus G8 und der wegfallenden Wehrpflicht, der 2011 wie erwartet die Universitäten überschwemmte.
Mittelstandsloch wächst
Das Deutsche Studentenwerk dringt angesichts der Preisentwicklung auf eine Erhöhung der Sätze, die 2010 erstmals seit 2001 angehoben worden waren. Doch Schavan hat andere Pläne. Die BAföG-Mehrkosten für 2011 wird sie den Ländern zukommen lassen. Nun sollen die Einkommensgrenzen gesenkt werden: Schon bei einem niedrigeren Gehalt der Eltern als bislang wird es einen Ablehnungsbescheid geben.
Das ist skandalös. Denn eines der größten Probleme der Ausbildungsförderung ist ihr sogenanntes Mittelstandsloch. Es betrifft jene, deren Eltern zu wenig verdienen, um ihren Kindern das Studium zu finanzieren, aber zu viel, als dass ein BAföG-Anspruch bestünde. Schon bei Einführung der Studienkredite durch die KfW im Jahr 2006 insistierte das Deutsche Studentenwerk, dass dieses Loch dringend gestopft werden muss. Stattdessen wurde es privatisiert: Es gab ja nun die Kredite.
Eine weitere Förderung von Exzellenz sind Stipendien über die verschiedenen Stiftungen. Ausschlaggebend für die Aufnahme in die Förderung sind bei allen Stiftungen sehr gute Noten. Keiner Stiftung geht es in erster Linie darum, sozial-ökonomische Nachteile auszugleichen, die zum Beispiel durch die Herkunft bestimmt werden. Immerhin sind die Programme so ausgelegt, dass abhängig vom Einkommen der Eltern oder des Partners der monatliche Grundbetrag variiert – von Null bis über 500 Euro. Hinzu kommen Pauschalen für Kinder und Krankenkassen. Das Ministerium hat zur Ausweitung der Reichweite das „Deutschlandstipendium“ ins Leben gerufen. Außerdem wurde das Büchergeld erhöht. Das allerdings sorgte sogar bei Stipendiaten für Widerspruch, weil damit ausgerechnet der Teil des Stipendiums wuchs, der unabhängig vom sozio-ökonomischen Background der Studierenden ist. Das Gießkannenprinzip gilt wie immer in der Politik, wo wir es mit bereits Privilegierten der Gesellschaft zu tun haben. Während das Büchergeld von 80 auf 150 Euro im Monat erhöht wurde, darben BAföG-Bezieher seit Jahrzehnten.
Bildungspolitik nur für Leistungsträger
Diese Politik entspringt einer einfachen Logik: Sie ist auf die sogenannten Leistungsträger der Gesellschaft zugeschnitten. Sie widmet sich den Gewinnern, denen, die schon toll sind und von denen man gute Nachrichten erwarten kann. Sie startet Projekte, die nett klingen. Aber neue Investitionen fließen zu einem minimalen Teil in die Frühförderung oder die Förderung der Schwächsten. Für die findet die Politik bestenfalls wohlwollende Worte. Oder delegiert die Aufgabe gemütlich an die Zivilgesellschaft und die Länder: Dank Kooperationsverbot!
Das ist bequem. Aber wer sagt, mehr sei nicht möglich, der macht es sich zu leicht. Denn es ist einfach nicht wahr, dass die Bundespolitik im Land des Bildungsföderalismus keinen Einfluss hätte. Sie kann auf zwei Wegen aktiv werden: Erstens steht ihr der gleiche Weg für die Förderung der Abgehängten offen wie für die Förderung der Exzellenz. Mit Einzelprojekten, begrenzten Aktionen und Anschubfinanzierungen könnte sie auch hier das Kooperationsverbot großzügig auslegen. Wenn sie wollte. Zweitens hat die Bildungsministerin eine gewichtige Stimme im Land. Sie könnte eine breite Debatte über Reformen der Schulsysteme in den Ländern anstoßen und damit Reformdruck aufbauen.
Dass die Bundespolitik auch auf die Länderpolitiken durchschlägt, das zeigt sich doch bei jeder Landtagswahl. Gäbe die Ministerin ein klares Votum für eine Verlängerung der gemeinsamen Grundschule ab, wie schwer hätten es die Länder, die sich dagegen wehrten? Doch sie will nicht. Sie schafft eine bundesweite Atmosphäre, in der all jene Landesregierungen in Rechtfertigungsstress geraten, die an der Dreigliedrigkeit rütteln. Die Bundesbildungsministerin lebt das non-egalitäre Ideal ihrer Partei, und dieses schließt ein Rütteln an der Mehrgliedrigkeit aus. Damit verhindert sie Bildungspolitik als Gerechtigkeitspolitik.
Katrin Rönicke schreibt im Freitag zu Gender- und Bildungsthemen
In der Freitag-Serie „Herkunft: Bestimmt“ erschienen bisher die Titelgeschichten „Der lange Weg nach oben“ von Philipp Wurm und „Auf in den Kampf“ von Andrea Roedig. Stefan Wellgraf schrieb über Hauptschüler, Oliver Nachtwey porträtierte die Abstiegsgesellschaft, Steffen Kraft traf den Bildungsforscher Klaus Hurrelmann und Maxi Leinkauf unterhielt sich mit der aus Marzahn stammenden Anja Görnitz. Alle diese Texte fragen nach den Gründen und Folgen der abnehmenden sozialen Mobilität in Deutschland – und was man dagegen tun kann.
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