Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 13 Tagen wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.
Jeden Morgen fahre ich an einer Baustelle vorbei. Einer Abbaustelle, um genau zu sein. Das Kaufhaus Brühl am Brühl wird täglich kleiner, die Wüste wächst. Zu DDR-Zeiten sah es aus wie eine Blechbüche und hieß auch so. Die alten Fassaden unter dem neuen Glanz gerieten in Vergessenheit. Jetzt sind sie wieder sichtbar und sollen gleich wieder weg, durch die Schaufenster kann man die Schuttberge sehen.
Das empört die Leipziger, deren Empörung oft recht spät kommt, was ihr freilich wenig von ihrer Wucht nimmt. Menschenketten wurden gebildet und zwar nur 500 Hände gezählt - aber so haben die Montagsdemos auch mal angefangen. Doch ach, hier war es ein Samstag. Der Sachse ist keiner, der sich im Mittelfeld aufreibt, um wenig später in die Spitze zu stoßen (das habe ich gestern beim Fußball-Hören aufgeschnappt, es ging da aber in Wirklichkeit gar nicht um Sachsen). Der Sachse jammert zum Beispiel nicht über kaltes Wetter. Er wartet einfach, bis es wieder wärmer ist und kauft sich dann eine preisgesenkte Steppjacke.
Noch in Gedanken ans zu späte Erwachen schlage ich den SPIEGEL auf, blättere bis zum Interview mit Christa Wolf - und bin aber sofort auf 180! Unter der Überschrift „Wir haben dieses Land geliebt“ lese ich, soll es um ihre Erinnerungen an die DDR gehen, die Zeit der Wende, um den ostdeutschen Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck und das Schreiben als guter Begleiter in Krisen.
Der Eigentliche Anlass für dieses Gespräch ist der neue Roman Christa Wolfs, „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, der am Montag erscheint. Doch von Anfang an spüre ich eine Herablassung der Redakteure Susanne Beyer und Volker Hage, die mich fassungslos macht. Während für gewöhnlich in Interviews mit Schriftstellern vergleichbaren Kalibers Schultern und Schenkel geklopft werden in intellektuellem Einverständnis gemeinsamer Herkunft, wird hier sogar das Kaliber ignoriert. Jede Frage klingt wie ein Vorwurf, die Grenze zur Unterstellung ist schnell überschritten.
Zu Gauck, so eine Antwort, erlaube sie sich kein Urteil, weil sie es „nicht ausreichend begründen könnte“. Diese Zurückhaltung (in der doch eine Aussage steckt) wünsche ich mir von den Schnellschwätzern, die immer und zu allem eine Meinung haben, wenngleich von wenig Kenntnis getrübt. Christa Wolf sitzt auf dem heißen Stuhl. „In Ihren Büchern entfaltet sich die Erinnerung aus sich selbst heraus (…) Sollte man nicht auch einmal zu einem Urteil, einer Einschätzung kommen?“, wird sie gefragt „Ja wenn Ihr Ahnungslosen das nicht erkennt!“ rufe ich. Natürlich stumm.
Warum sie dies getan und jenes gelassen habe, wird die 81-Jährige gefragt und ob es sie freue, dass viele Menschen wegen der globalen Krise heute offener für eine grundsätzliche Kritik „auch am kapitalistischen System" seien. Ich erlebe ein Kreuzverhör, und beruhigen kann mich nur, dass Wolf gelassen bleibt und sich behauptet, ihr Leben, ihr Denken, ihr Schreiben. Ihre Form des Umgangs mit Kritik und Konflikten wirkt weise und unbedingt aufrichtig.
Sie war und ist in ihrer Zeit, nicht zu spät, auch nicht zu früh, sie erkennt die Gegenwart und imaginiert Zukunft, indem sie Vergangenheit hineinträgt. Dieses mit Blick auf die DDR (unsichtbar) gesetzte Gleichheitszeichen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus - ich ertrage es nicht mehr. Ich sehe es als Ausflucht, als Feigheit vor sich selbst. Aber wahrscheinlich ist es längst zu spät für einen offenen Blick.
Kommentare 14
Liebe kay.kloetzer,
das ist ein Beispiel, dass ohne oben man so schöne interessante Gedanken hat. Volker Hage - seit Jahr und Tag macht er mit Christa Wolf die Interviews und meist sind das solche Kreuzverhöre. Aber sie hält sich eigentlich immer an das, was sie gesagt hat: Schreiben ist, sich aussetzen.
Aber, sie ist da manchmal auch sehr rigoros.
Was ich bisher über das Buch gelesen habe, ist nicht ermutigend. Viele nennen es Selbstquälerei, wie auch immer. Ich werde es mir auf jeden Fall besorgen.
Gruß
Also, ich glaube, ich war auf 181.
Aber warum tut sich Christa Wolf ein solches, vielleicht ja doch nach all den Nachwendejahren erwartbares Kreuzverhör an? Es ist mir rätselhaft. Diese Spiegel-Leute wollten nichts wissen oder verstehen. Die wollten in dieser unangenehmen, herablassenden Art Urteile bestätigt haben. Auch das Foto mit ihrem Mann spricht eine deutliche Absicht aus. Aber so ist es eben.
Übrigens lese ich täglich(!) beim ersten Überfliegen:30 Tage oben ohne. Und frage mich also täglich:Wer, wo und warum? :)
Ein solcher Text am 17. Juni?!!! - Also, bitte, gaaar nix gelernt, wa?
@ goedzak - Genau, stimmt.
liebe magda,
ich bitte um tschuldigung, war den ganzen tag offline. heute habe ich die bisherigen rezensionen, oder auch relativierungen, gelesen. mir schwillt auch da - zum teil - der kamm. niemand muss christa wolf mögen, aber respekt vor dem werk würde ich mir schon wünschen, auch vor der biographie, meinetwegen vor dem fremden. ich würde mir zum beispiel nie ein vergleichbares urteil über ralf rothmann erlauben (kein verlgeich, ich weiß, aber der scheint mir typisch), weil ich weiß, dass es mich nichts angeht, dass das verständnis-problem bei mirl iegt, nicht bei ihm. wolfs buch ist ein grandioses buch. aber ich kann nachvollziehen, dass es anderen fremd bleibt. was kein grund ist, das buch oder sie nachsichtig, gar herablassend zu behandeln. sie ist einfach klug, weil sie weder eitel noch rechthaberisch ist.
liebe grüße
kk
das, gerhardHM, habe ich ich auch gefragt: warum tut sie sich das an? sie braucht dieses medium nicht. andererseits wirkt es wie eine möglichkeit, sich zu erklären. das ist nicht nötig. das buch spricht für sich. vielleicht möchte das der verlag? seit montag, sagt mir die buchhändlerin meines vertrauens, fragen die kunden. aber sie hätten es bestimmt auch später haben wollen. und danach gefragt.
liebe grüße
kk
ihr wisst es ja. ich will den 17.6. nicht verharmlosen. aber in seinem namen haben zu viele recht, die den rest nicht verstanden haben. sich 1989 darauf zu berufen, spricht für realitäts-rückversicherung. 2010 ist es schon feige. liebe grüße
kk
Liebe kay.kloetzer,
dass dem Verlag daran liegt, dass Christa Wolf dem Spiegel ein Interview gewährt, leuchtet mir ein. Darum tut sie sich das an und ich finde das nachvollziehbar. Das ist Marketing.
Dass dem Spiegel Christa Wolf zuwider ist und Spiegel-Interviews mit ihr sich wie Verhöre durch den Verfassungsschutz lesen, sehe ich auch so. Ist wohl auch der Auftrag.
Der Erfolg: der Auflage tut es gut. Merke: nicht jeder Spiegelleser ist ein Arschgesicht. Manche/r kann solche Interviews nämlich gut einordnen.
Das Buch bestelle ich mir.
Herzlichst
weinsztein
lieber weinsztein,
es muss ja gar kein schnelles buch sein. das mag ich auch noch gern zu weihnachten verschenken. denn gültig ist es eh noch viel, viel länger. übrigens ein klassisches nachttisch-buch, also nix zum wegschroten. sondern zum verweilen.
aber warum nur, warum nur ist sie so zuwider, dass die ihrem ekel so viel platz einräumen? ich verstehe es nicht. je größer die abwehr, umso größer die angst. wovor?
gute nacht
kk
Liebe kay.kloetzer,
dem Spiegel ist Christa Wolf zuwider wegen ihrer eigenen Sicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Sicht Christa Wolfs ist nicht die des Spiegel oder die des herrschenden Gesellschaftssystems.
Nur darum geht's.
Aber neue Werke von Christa Wolf kann der Spiegel nicht ignorieren. Er braucht das Interview mit ihr oder einen Verriss allein wegen konkurriender Medien. Daher der Ekel.
So richtig Angst haben die nicht, zur Zeit, kann aber noch kommen.
Liebe Grüße
weinsztein
@weinsztein
"Merke: nicht jeder Spiegelleser ist ein Arschgesicht." Eine (sehr derbe) Perle. :)
Ihre offensichtliche und für jedermann und -frau nachlesbare Unkorrumpierbarkeit, ihr ausdauerndes und konsequentes Fragen und Suchen, ihre Rücksichtslosigkeit und Konsequenz im Denken und Schreiben und Handeln,... Mir fallen eine Menge Gründe ein, warum sie angefeindet wird. So mancher muß eben auch heute noch so eine Art Krieg gewinnen. Kann sich ohne diesen vielleicht gar ein Leben nicht einmal vorstellen. Und Anstand und Fairness sind ja in so manchen Kreisen nicht eben Pflicht.
Sie wird nicht mehr gebraucht!
(Damit sage ich NICHT, dass sie sich hätte jemals benutzen lassen.)
danke, dass ihr, kk folgend, euer missfallen äußert über die spiegel- oder allgemeiner medienmeute.
wem gehorchen und gehören diese medien? aha. dem markt natürlich und seinen gesetzen.
danke, kk und alle ihr folgenden, dass ihr euer missfallen äußert über die (spiegel- oder)medienmeute.
wem gehören und gehorchen doch die besagten medien? ja, klar, dem lieben markt und seinen unumgehbaren (?) gesetzen.