30 tage ohne oben (17)

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Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 13 Tagen wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.

Jeden Morgen fahre ich an einer Baustelle vorbei. Einer Abbaustelle, um genau zu sein. Das Kaufhaus Brühl am Brühl wird täglich kleiner, die Wüste wächst. Zu DDR-Zeiten sah es aus wie eine Blechbüche und hieß auch so. Die alten Fassaden unter dem neuen Glanz gerieten in Vergessenheit. Jetzt sind sie wieder sichtbar und sollen gleich wieder weg, durch die Schaufenster kann man die Schuttberge sehen.

Das empört die Leipziger, deren Empörung oft recht spät kommt, was ihr freilich wenig von ihrer Wucht nimmt. Menschenketten wurden gebildet und zwar nur 500 Hände gezählt - aber so haben die Montagsdemos auch mal angefangen. Doch ach, hier war es ein Samstag. Der Sachse ist keiner, der sich im Mittelfeld aufreibt, um wenig später in die Spitze zu stoßen (das habe ich gestern beim Fußball-Hören aufgeschnappt, es ging da aber in Wirklichkeit gar nicht um Sachsen). Der Sachse jammert zum Beispiel nicht über kaltes Wetter. Er wartet einfach, bis es wieder wärmer ist und kauft sich dann eine preisgesenkte Steppjacke.

Noch in Gedanken ans zu späte Erwachen schlage ich den SPIEGEL auf, blättere bis zum Interview mit Christa Wolf - und bin aber sofort auf 180! Unter der Überschrift „Wir haben dieses Land geliebt“ lese ich, soll es um ihre Erinnerungen an die DDR gehen, die Zeit der Wende, um den ostdeutschen Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck und das Schreiben als guter Begleiter in Krisen.

Der Eigentliche Anlass für dieses Gespräch ist der neue Roman Christa Wolfs, „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, der am Montag erscheint. Doch von Anfang an spüre ich eine Herablassung der Redakteure Susanne Beyer und Volker Hage, die mich fassungslos macht. Während für gewöhnlich in Interviews mit Schriftstellern vergleichbaren Kalibers Schultern und Schenkel geklopft werden in intellektuellem Einverständnis gemeinsamer Herkunft, wird hier sogar das Kaliber ignoriert. Jede Frage klingt wie ein Vorwurf, die Grenze zur Unterstellung ist schnell überschritten.

Zu Gauck, so eine Antwort, erlaube sie sich kein Urteil, weil sie es „nicht ausreichend begründen könnte“. Diese Zurückhaltung (in der doch eine Aussage steckt) wünsche ich mir von den Schnellschwätzern, die immer und zu allem eine Meinung haben, wenngleich von wenig Kenntnis getrübt. Christa Wolf sitzt auf dem heißen Stuhl. „In Ihren Büchern entfaltet sich die Erinnerung aus sich selbst heraus (…) Sollte man nicht auch einmal zu einem Urteil, einer Einschätzung kommen?“, wird sie gefragt „Ja wenn Ihr Ahnungslosen das nicht erkennt!“ rufe ich. Natürlich stumm.

Warum sie dies getan und jenes gelassen habe, wird die 81-Jährige gefragt und ob es sie freue, dass viele Menschen wegen der globalen Krise heute offener für eine grundsätzliche Kritik „auch am kapitalistischen System" seien. Ich erlebe ein Kreuzverhör, und beruhigen kann mich nur, dass Wolf gelassen bleibt und sich behauptet, ihr Leben, ihr Denken, ihr Schreiben. Ihre Form des Umgangs mit Kritik und Konflikten wirkt weise und unbedingt aufrichtig.

Sie war und ist in ihrer Zeit, nicht zu spät, auch nicht zu früh, sie erkennt die Gegenwart und imaginiert Zukunft, indem sie Vergangenheit hineinträgt. Dieses mit Blick auf die DDR (unsichtbar) gesetzte Gleichheitszeichen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus - ich ertrage es nicht mehr. Ich sehe es als Ausflucht, als Feigheit vor sich selbst. Aber wahrscheinlich ist es längst zu spät für einen offenen Blick.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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