30 tage ohne oben (19)

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Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 11 Tagen wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.

Am Wochenende habe ich die Kinder. Alfons und Alfred. Die heißen wirklich so und leben zwar im Nachbarhaus, aber unsere Höfe grenzen aneinander, unsere Balkone auch. Im Hof spielen Alfons und Alfred, vom Balkon aus regiert Mutti. Wie immer beginnt es auch heute ganz harmlos: Ich höre Kinderstimmen um einen Ball streiten, nichts Schlimmes, sie sind ja Geschwister, keine Freunde.

„Es will ihnen einfach nicht gelingen, ein Mannschaft zu formen“, sagt der Mann im Fernsehen. Geht es um Fußball? Oder ums Regieren? So oder so um Schwarz-Rot-Gold-Gelb-Geld.

Und schon ist Mutti im Amt, Alfons und Alfred werden erzogen, bis einer schreit. Meist ist es Alfred, der nach mehreren Gelben Karten („Alfreeed, leiser!“) die Rote gezeigt bekommt („Alfred! Ich komm' gleich runter!“). Seit Jahren geht das so. Sobald sich eine Art Spiel entwickelt, greift Mutti ein. Ich werde den Knaben mal sagen, dass sie sich verbünden sollen. Das hat sich ja gestern beim Deutschland-Spiel gezeigt, wie im Schimpfen auf den Schiedsrichter das Fahnenmeer dichter wird. Geteiltes Leid ist halbes Oberwasser oder so.

Das ist die Solidarität der Stunde: Schulterschluss mit dem Rücken zum Tor. Und hoffen, dass der Ball vorbeifliegt. Die Entsolidarisierung der Gesellschaft sei ein großes Problem, sagt auch Margot Käßmann, die an der Linie leider keine Gelben Karten mehr im Ärmel hat. Vielleicht ist es gar nicht so gut, dass die Wahl des Bundespräsidenten auf einen Tag gelegt wurde, an dem kein WM-Spiel stattfindet. An einem 23. Juni hätten sich doch alle zügig in den Armen liegen können, statt sich in den Arm zu fallen, wenn Mutti den Balkon betritt.

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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