30 tage ohne oben (28)

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Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 2 Tagen wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.

Also ich liebe den Sommer vor allem wegen der Nächte. Es ist lauwarm, duftet nach Wiese oder nach Bratwurst, wir sitzen vor der gastronomischen Einrichtung und retten die Welt, bis es dämmert. Hin und wieder gibt es Vollmond.

Natürlich ist das alles nur eine Entschädigung für die Strapazen des Tages. Wie gern würde ich es im Sommer halten wie die Schwestern und Brüder in den südlichen Ländern, würde mich hinter Außenjalousien bedeckt halten, zwischen 11 und 16 Uhr kein Haus verlassen, überhaupt erst gegen 17 Uhr mein Tagwerk beginnen - bei inspirierenden Getränken ins schattigen Gassen. Das kann dann ruhig ein bisschen länger dauern.

Ich habe einen Kompromiss gefunden und frage ich mich, wie es kommt, dass ich dennoch ein so ganz anderes Leben führe als meine Eltern, die schon ein so ganz anderes Leben führen als meine Großeltern. Meine Omi fragt mich manchmal, wie ich nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause komme. Ich könnte antworten, dass es sich um den Tagesanbruch handelt. Sage aber: Taxi.

Als meine Eltern und Großeltern so alt waren, wie ich es jetzt bin, waren das vernünftige, verantwortungsvolle Erwachsene. Im Grunde sind sie es heute noch. Ihre Kinder waren aus dem Gröbsten und der Wohnung raus, und sie haben sich einige Wünsche erfüllt: eigenes Zimmer, entspannter Urlaub, mehr Zeit zum arbeiten. So wie sie gestern arbeiteten, wollten sie ja heute leben.

Ich habe lange schon zwei eigene Zimmer, von denen ich mich aber im Sommer entfremde, weil sie drinnen sind, und ich bin ja draußen. Ich erfülle mir meine Wünsche sofort, das heißt, entweder übernimmt das der Wirt oder der Hermes-Paket-Shop.

Ich bin werberelevant.

Nicht mehr lange, dachte ich vor kurzem noch, denn angeblich ist ja bei 49 Schluss. Nun aber lese ich, dass sich die Zielgruppe der Berechenbaren in einem Strukturwandel befindet. Waren es bisher die 14- bis 49-Jährigen, sind es nun die 20- bis 59-Jährigen, denen hinterhergehechelt wird. Das ist interessant für die Fernsehanstalten, die sich bisher den Vorwurf der Überalterung anhören mussten und nun plötzlich im Trend senden.

Und es ist interessant für die Zukunft. Nicht nur die Jugend ist nicht mehr das, was sie mal war, die Alten, sag ich jetzt mal, sind es auch nicht mehr. Das ist natürlich eine Riesenchance für unser Land. Wenn nämlich die Zahl derer, denen zugetraut wird, eine eigene Meinung mit einer eigenen Wahl in Einklang zu bringen, sich etwas mittiger zwischen den Polen der Zurechnungsfähigkeit einpegelt, wobei nach oben noch Spielraum sich auftut, wenn also diese Volksgruppe so entscheidend ist, dann kann sie doch bitteschön auch entscheiden. Alles. Zuerst über die Wahlrelevanz der Bundespräsidentenkandidaten.

Ist es schon zu spät? Ach was, es ist noch nicht mal dunkel.

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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