30 tage ohne oben (6)

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Der Chef ist weg, der Boss, der Köhler. In 24 Tagen wird ein neuer Bundespräsidentenmensch gewählt. Wie fühlt er sich an, der Alltag so ohne richtiges Staatsoberhaupt? Ein Tagebuch.

Ich bin durchaus ein bisschen feige. Nur ungern würde ich mich im Theater in die erste Reihe setzen, dann lieber in den ersten Rang. Der wird aber hier im Schauspielhaus kaum noch aufgemacht. Sie spielen ohne oben, dafür spielt man unten mit. Da rennt mal ein Schauspieler durch, mal setzt sich einer neben dich. Zumindest muss man immer damit rechnen. Das kenne ich noch aus dem Kindertheater von ganz früher, es ist dann doch relativ ungefährlich.

Anders in der kleinen Spielstätte, der Skala, da gibt es nicht nur keinen Rang, da gibt es manchmal gar keine Sitzreihen. Ich darf mich frei im Raum bewegen, was weniger euphemistisch ausgedrückt bedeutet, dass die Zuschauer abendfüllend auf der Flucht sind. Wahrscheinlich, weil man die Plumpheit der Lust in dieser ritualisierten Welt am eigenen, schlaffen Leib erfahren muss. Obwohl ich es auch zu genießen verstand, als die Schauspieler mir das noch abnahmen.

Weil ich manchmal auch ein bisschen mutig bin, habe ich gestern "Unfun" besucht, Matias Faldbakkens Schlussstein seiner "Skandinavischen Misanthropie". Ich bin sehr stolz auf mich. Ich habe mich nicht einschüchtern lassen von den Regen-Ponchos, die am Eingang empfohlen wurden, jene Ganzkörper-Kondome, die ansonsten im Sommertheater das Schlimmste abhalten, also Starkregen. In der Skala sind das Schlimmste tieffliegende Grabower Küsschen (darf man eigentlich inzwischen wieder Negerküsse sagen?), vor denen ich mich hinter anderen Zuschauern, einem Autowrack, der einen oder anderen Plastikplane in Sicherheit zu bringen versuche. Klappt nicht. Platsch! Ob ich besser die Kapuze aufsetze? Das macht aber keiner sonst, alle laufen oben ohne durcheinander. Hin und wieder trifft man auf einen Schauspieler, einen Techniker, die Souffleuse. Einmal habe ich versehentlich "Hallo" gesagt. Dabei hätte ein komplexes "High" es auch getan.

Zwei Stunden später bin auch ich eine Gewaltintellektuelle unter Gewaltintellektuellen, so wie Faldbakken und Regisseur Mirko Borscht oder vielleicht auch nur das Schicksal es wollen.

Und jetzt gehe ich raus. Toben!

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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