Dies ist eine Art Antwort auf Katharinas Blog "Als 68er" (www.freitag.de/community/blogs/johanna-k/als-68er), es ist ein Pendant, vielleicht auch eine Spiegelung, ist die Erinnerung an ein Heranwachsen in Ostberlin.
Es musste ja so kommen. Statt in den warmen Armen meiner Mutter, wuchs ich auf in der emotionalen Kälte von Kinderkrippe (Zwangs-Topfen) und Kindergarten (Panzer im Sandkasten). Als 1968 Geborene zähle ich zwar zu den ersten sozialistischen Wunschkindern, weil damals auch in der DDR endlich die Möglichkeit der Anti-Baby-Pille in die Familienplanung eingebunden wurde, dennoch war es meiner Mutter unmöglich, ihr Medizinstudium abzubrechen oder auszusetzen. Zumindest nicht, wenn sie Ärztin werden wollte. Also ab mit dem Kind in die Ganztagsbetreuung. Wirklich traumatisch war der Wechsel vom Kindergarten in Lichtenberg zum anderen in Friedrichshain. Wer verliert schon gern von heute auf morgen alle seine Kindkollegen. Und Facebook hatten wir ja nicht. Schon gar kein Babyfacebook.
Als ich dann unterm Weihnachtsmann-Kostüm die dicke Küchenfrau erkannte, war es eigentlich vorbei mit der unbeschwerten Kindheit. Manchmal konnten die frischen Apfelringe aus dem Obst-und-Gemüse-Laden nebenan wieder so etwas wie Heimatgefühl herstellen. Ja, es gab Obst-und Gemüse-Läden in der DDR. Was frisch war, war auch Bio. Was nicht frisch war, gab's eh kaum.
Und als ich älter war und zur Schule ging - damals bewältigten die Kinder das allein und oft sogar zu Fuß -, war immer etwas Haushaltgeld und ein Stoffbeutel im Ranzen. Für den Fall, dass der Heimweg an einer Menschenschlange vorbei führte und diese wiederum in ein Geschäft, in dem es Pfirsiche gab oder Kirschen oder Erdbeeren. In manchen Jahren lohnte sich das auch für Toilettenpapier oder Butter. Mich interessierten aber vor allem Negerküsse, die gab es in jener Kaufhalle in der Singerstraße, in der Plenzdorfs "Legende vom Glück ohne Ende" (die von Paul und Paula) spielt. Später dann jagte ich Bücher.
Ein nur kleiner Umweg führte zur Karl-Marx-Buchhandlung in die Karl-Marx-Allee. Die, an der Ulrich Mühe in "Das Leben der Anderen" ganz am Schluss zunächst vorbei zieht - bis er das (wie sich herausstellt) ihm gewidmete Buch im Schaufenster sieht. Damals lag das, was man suchte, bevor man wusste, dass man es hätte suchen können, nicht in der Auslage. Es lohnte nicht, die Neuerscheinungen überhaupt auszupacken. Sie gingen direkt aus der Kiste unter dem Ladentisch über den Verkaufstresen. Die Frage, was denn so reingekommen sei, genügte. Ein gewisses Vertrauensverhältnis vorausgesetzt. Das hat teure Lagerflächen sparen helfen. So kam es, dass wir alle das Gleiche lasen - Neues, Altes, Werkausgaben. Tschingis Aitmatow, Christa Wolf, Emile Zola, Jürgen Kuczynski, Christoph Hein,Volker Braun, Rosa Luxemburg, Eva Strittmatter oder Erwin, Honoré de Balzac, Bert Brecht, Leon Feuchtwanger, Friedrich Wolf.
Wir Jugendlichen lasen alles, worüber die Erwachsenen sprachen. Denn ob nun die Freunde der Eltern spontan auf ein Bier klingelten oder alle zusammen auf Dachgärten bis zum Morgenlicht feierten - es wurde geredet, geredte, geredet.
Sich dagegen abzugrenzen, war nicht unbedingt mein Wunsch. Vielmehr wollte ich dazugehören. Die wirkten frei und wissend, fröhlich im Denken zuhause. Mein Protest bestand dann darin, beim Aufkommen der Farbfilme stur in Schwarz-weiß zu fotografieren. Farbe war spießig. Auch was die Klamotten anging. Und da, wer Individualität ausstrahlen wollte, sich seine Sachen sowieso selber nähte, schneiderte ich mir aus schwarzem Fahnenstoff schlimme, sackartige Überwürfe. Alternativ kam höchstens Blaudruck infrage. Es war da eine Sehnsucht nach Aufgehobensein in einer Gemeinschaft bei gleichzeitiger Abgrenzung durch höchstmögliche Eigenartigkeit.
Da meine Eltern ganz normal bis abends arbeiteten, verbrachte ich ab der 3. Klasse meine Nachmittage selbstbestimmt. Mal abgesehen von den Arbeitsgemeinschaften, irgendwelchen Mathe- oder Zeichen- oder Sport- oder Tanzkursen,die ich ohne große Ambition abhakte. Leider. Gern hätte ich ein Instrument gelernt oder mich mit irgendetwas länger beschäftigt, als die erste Euphorie anhielt. Aber das Motto war: Alles kann, nichts muss. Als ich mit Eintritt in die Pubertät den Zugang zur Mathematik verlor, hörte ich eben auf. Als Leichtathletik nur noch 4 x wöchentlich ging oder gar nicht, entschied ich mich für gar nicht. Als ich versuchte, mir selbst Latein beizubringen, ließ ich es, weil ich allein nicht weiter kam, eben wieder bleiben.
Natürlich gab es paramilitärische und Propaganda-Verpflichtungen in der Schule. Aber die haben mein Leben nicht unmittelbar geprägt. Ich weiß nur noch, dass wir uns die Uniformen auf hautnah nähten, damit sie nicht ganz so peinlich aussahen. Und Freiluft-Appelle auf dem Hof der Pankower Penne mussten regelmäßig unterbrochen werden, weil die Flugzeuge nach Tegel im Landeanflug dröhnten. Schweigeminute für den Klassenfeind.
An den Wochenenden ging es mit den Eltern aufs Grundstück - Langeweile im Grünen. Im Sommer drei Wochen an die Ostsee - lesen am Strand, feiern am Abend. Im Winter 10 Tage Ski fahren im Erzgebirge oder mit Glück mal in Bulgarien. Jahr für Jahr ein Ritual, das nie enttäuschen konnte, weil die Erwartungen nie über das zu Erwartende hinaus gingen. Mein Vater riss in unserer Neubauküche eine Trockenwand raus, um ein bisschen Weite zu schaffen.
Als ich alt genug war, das nicht mehr mitmachen zu müssen, fuhr ich mit Freunden an Wochenenden auf irgendein Grundstück - Romantik im Grünen. Im Sommer an die Ostsee - reden am Strand, feiern am Abend. Auf dem Zeltplatz in Zinnowitz sahen wir im Sommer '89 die ersten Neonazis. Im Winter blieben wir zuhause.
Im Winter kamen die Zweifel. Im Dunkel sahen wir unsere Zukunft nicht. Wussten nicht mehr wie warum wohin. Im Winter tranken wir uns die Wärme in den Leib. Uns starben noch keine Menschen, aber die Illusionen über unsere Freiheit. Weil nicht jeder lernen, studieren durfte, was er wollte. Weil es auf kluge Fragen dumme Antworten gab. Wir sahen die Decke schon, an die wir zu früh stoßen würden. Und gläsern war die nicht.
In Sommern spielten Bob Dylan oder Bruce Springsteen open air in Ostberlin. Im Februar gingen wir zum Festival des Politischen Liedes und sangen mit Wenzel oder Gundermann, mit van Veen oder Branduardi, mit Billy Bragg oder León Gieco: "Solo le Pido a Dios".
So war ich politisch: hellhörig, romantisch, naiv und frustriert.
Ich hatte Glück. Als die Mauer fiel, waren ich 21. Und ich war in Leipzig, erwachsen geworden mit den Träumen einer Revolution. So gesehen bin ich wohl eine Alt-89erin.
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