Bananenkiste voller Leben

Literatur Es ist kein Wenderoman, kein DDR-Roman - und gerade darum ist Thomas Fritz' "Selbstporträt mit Schusswaffe" ein gültiger Beitrag zum Tag der deutschen Einheit.

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In Film und Fernsehen haben sie gerade einen guten Lauf: Geschichten aus der DDR. In der Literatur gewinnen sie zudem jene Normalität zurück, von der sie erzählen. Der Leipziger Autor Thomas Fritz lässt seinen Roman „Selbstporträt mit Schusswaffe" zwar Mitte der 90er Jahre spielen, doch hat das Verhalten der Figuren wesentlich zu tun mit dem Leben davor, dem Leben hinter der Mauer, und auch mit dem Wehrdienst an jener Grenze, mit der „das Regime, das sich normalerweise zu maskieren suchte, völlig ungeniert sein Gesicht" zeigte.

In seinem Debüt „Blick und Beute" hat Fritz vor zwei Jahren zwei frustrierte Ostler einen optimistischen Westler kidnappen lassen und daraus einen turbulenten Krimi entwickelt. Auch diesmal gibt es eine Leiche, allerdings ist Peter Kilian, keine 40 Jahre alt, in einem Dorf-Gasthof zwischen Magdeburg und Helmstedt eine schmale Treppe hinuntergestürzt. Eigentlich hätte er zu dieser Zeit in Braunschweig sein sollen, um „Tosca" zu rezensieren und die Bühnenbildnerin T.A.B.E.A. zu treffen, die wiederum einer gewissen Bille aus Wien verblüffend ähnlich sieht.

Kilian hat eine Bananenkiste voller Zettel und Notizen, hat Disketten, Dateien und auch „die unvermeidliche Stasiaktenkopie" hinterlassen. Mit der Bitte „Mach was draus." lädt seine Freundin sie bei Achim Schlesinger ab, einem Schriftsteller und alten Freund des Toten. Ein Buch soll er machen „aus den zusammengefegten Resten eines Lebens". „Selbstporträt mit Schusswaffe" steht auf einer der Mappen, und so heißt am Ende auch, was aus diesem Nachlass, aus Essays, Erzählungen, einem Märchen entsteht.

Vor 20 Jahren waren Kilian und Schlesinger bei den Grenztruppen, „eine Maschinenpistole über der Schulter und zweimal dreißig Schuss Munition im Magazin", nicht weit von jenem Gasthof entfernt, in dem Kilian aus Gründen übernachtet hat, die Schlesinger herauszufinden sucht. Die beiden hatten sich in den letzten Jahren nur selten gesehen, und so bleiben zunächst vor allem Fragen.

Aus Episoden, eigenen Erinnerungen und den Aufzeichnungen Kilians schält Schlesinger einen Charakter, der versucht hat, es sich „weder mit der Macht, noch mit deren Opfern noch mit sich selbst zu verderben". In seiner Systematisierung der Jasagerei listete Kilian: die Verführten und Behexten, die Selbstverleugner, die Dankbaren, die Entwaffneten, die leidenschaftlichen Stubenhocker (äußerliches Nicken und innerliches Kopfschütteln) sowie Citoyen und Citoyenne, die ihren Staat eigens deshalb die Treue hielten, weil es ihrem stolzen Bürgersinn entsprach.

Thomas Fritz, 1955 in Halle geboren, kennt die Demütigungen bei der NVA und auch das Theater- und Medienmilieu, das er mit freundlichem Spott streift. Dennoch liegt das Besondere dieses Gesellschafts-Romans nicht in Faktentreue, sondern gleichermaßen in Erzählhaltung wie dramaturgischer Raffinesse. Dieses Sittengemälde unterhält mit Witz und Tempo sowie einer Leichtigkeit, die fasziniert angesichts des Stoffes, der die Unmöglichkeit gerechten Urteilens in sich trägt und über die DDR hinausweist. Mit historischem Selbstbewusstsein beharrt Fritz auf Erinnerungen, die an Bedeutung zu gewinnen scheinen, je vehementer sie ignoriert werden.

(zuerst hier)

Thomas Fritz: Selbstporträt mit Schusswaffe. Merlin Verlag; 368 Seiten, 22,90 Seiten

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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