Prerow ist mein Sehnsuchtsort, seitdem ich eine eigene Zahnbürste habe. Erst wohnten wir in der Schulstraße, später auch mal in der Langen Straße, schlussendlich viele Jahre in der Hülsenstraße. Eine Ferienwohnung in Prerow wurde vererbt, nicht bezahlt. Okay, Ferienwohnung ist ein heute gebräuchlicher Euphemismus für Unterkunft zu einem Preis, der mit Selbstaufgabe nur unzureichend beschrieben ist.
Aber man konnte sich hochgewöhnen. Am Ende hatte ich ein eigenes Zimmer, meine Mutter erledigte den Abwasch eines Jahres und mein Vater reparierte in drei Tagen Fahrräder, wie heutzutage siebzehn Techniker in einer Woche bei der Tour de France. Dafür hatten wir drei Wochen das Quartier, drei Wochen die die Welt bedeuteten. Drei Woche nackt am Strand, und dennoch wussten wir, ohne die „Truman Show“ zu kennen, dass der Horizont aus Pappe ist.
Prerow war Berlin ohne Ampeln. Ich war Kind, aber ich habe verstanden, dass der Ort dazu da war, die gleichen Leute zu treffen wie zu Hause, nur ohne Sakko. Ohne Sakko war ohne Parteiabzeichen. Die Gespräche waren anders, lustiger, freier. Meine Eltern waren damals so alt wie ich heute. Und ich fahre heute nach Prerow, um anders, lustiger, freier zu sein. Aber ich fahre im Winter. So viel Freiheit muss sein.
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Wir reisen jetzt ohne Hänger, ohne Obst und Gemüse für länger. Wir legen dort bei EDEKA in einer Woche hin, wovon wir in Leipzig drei Wochen leben können. Aber es ist Prerow. Das Brot haben wir selbst gebacken. Den Aschenbecher für die Terrasse interpretieren wir als Indoor-Utensil der Ferienwohnung. Der Flachbildschirm bietet alle Sender unserer Welt. Wir schauen nach Ägypten, zu Anne Will. Der Kamin feuert, die Fußbodenheizung glüht. Wir wollen draußen rauchen.
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Im Winter ist der Horizont Vergangenheit. Das Eis des Ufers – ein Versprechen. Gefrorene Wellen – Gipfel überraschenden Glücks. Das Paradies Prerow ist im Winter menschenleer, der Apfel geschält, die Schlange gezähmt. Der Ur-Wald ist vereist. Und noch immer ist es der nächste Fluchtpunkt vor Schkeuditz. Kurz: Es ist Heimat. Und Heimat ist nicht perfekt. Aber schön. Heute eine schöne Verheißung. Und morgen eine schöne Erinnerung. Wenn es sein muss, ist das Paradies eine Eisdiele.
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Kommentare 28
Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. S. 1628, Ende.
danke! das war's. ungefähr. nein: genau. "worin noch niemand war". das leben - ja doch, ein déjà-vu. eine übermüdung.
danke für die impressionen -
für mich waren es die winterreisen nach wustrow/Fischl.,die in mir den starken Wunsch nach "heimat" abseits der großen städte entstehen ließen - nach dem beobachten der veränderung im immer-gleichen -
lange habe ich es als zeichen meiner ost-beschränkung gesehen -
"hier führt mich meine reise nicht weit aber tief" (gundermann)
Hallo kay,
an Prerow habe ich auch Erinnerungen, aber eher aus den mittleren Jahren. Da hat mir mal ein Kollege seinen schwer erkämpften Ferienplatz aus Krankheitsgründen abgetreten. Ich war drei Wochen dort und allein. Am ersten Tag war ich gerade am Strand, als ein just Ertrunkener geborgen wurde und dort herum lag. Das hat mir den Urlaub verdüstert. Ansonsten fand ich es zu DDR-Zeiten unendlich voll und alles durchorganisiert. Ich traf dort auch noch einen halbkriminellen Bekannten, der als - na klar - Kellner arbeitete.
Immerhin bekam ich in seiner Kneipe außer der Reihe ganz gutes Essen.
Wenn ich recht überlege, kann Prerow gar nichts für das alles, ich war zu der Zeit ein bisschen einsam - das war der Grund. Und die Leute alle so in Einklang mit sich und ich so in der Disharmonie.
Schöne Bilder. Das Waldbild erinnert mich sehr an den Sommer dort. Der warme Waldweg mit den Nadeln drauf.
ja, der trifft's mal wieder, der gundermann. und so gesehen ist es - denke ich - sowieso keine ostbeschränkung. eher schon eine rückkehr oder besinnung oder eben einfach nur eine schöne zeit.
liebe magda,
nun, das waren keine guten vorzeichen. gibt es ja manchmal im leben, dass ein ort mit der zeit nicht zusammenpasst und ein mensch mit den menschen.
durchorganiseiert fand ich es ja gar nicht so, warst du in einem FDGB-heim mit frühsport und essens-zeiten, durchgängen, wie sie genannt wurden?
meine großeltern schon haben in prerow gezeltet, als man statt auf toilette noch mit dem spaten in den wald ging. das wäre nicht so meins.
und auf kneipen-besuche sollte man auch heutzutage nicht angewiesen sein. nicht nur wegen des essens. so wie wir damals vor freude klatschend um den block rannten, wenn wir einen tisch im "helgoland" ergattert hatten, so würde ich heute glückshormone produzieren, wenn irgendwo ein aschenbecher auf dem tisch stünde. steht aber nicht.
vor einigen jahren war ich mal, habe ich das schon erzählt?, zur inneren einkehr drei wochen allein auf kreta, im süden, dort, wo es nur drei kneipen, ein paar apartments, eine bücherleihstation, viele aussteiger und einen strand gibt. das nächste dorf eine stunde fußmarsch entfernt, dazwischen ein tempel. es soll ein kraftort sein mit starkem magnetfeld. viele verbringen dort jedes jahr so lange wie möglich ihre ferien, für mich war's das grauen. in das tagebuch, das ich damals geschrieben habe, wage ich bis heute nicht reinzuschauen.
Ob wir jetzt wissen,
woher das Seestück über Deinem Blog ist...?
Vielen Dank, liebe k.k.!
Ja, stimmt schon, war eine schlechte Zeit, da in Prerow. An Hiddensee habe ich viel bessere Erinnerungen. Und völlig Einsamkeit ist schon
"so würde ich heute glückshormone produzieren, wenn irgendwo ein aschenbecher auf dem tisch stünde. steht aber nicht."
Da fühle ich - wenngleich schon lange Nichtraucherin - gerne mit.
nein, archie, das seestück ist von hiddensee, unserer spätsommerresidenz. für prerow zu saisonzeiten bin ich inzwischen zu intolerant gegenüber diesen und jenen, vor allem gegen menge, enge, lärm sowie jenseits des strandes unzueichend bekleidete eskalations-urlauber. das alles gibt es im januar nicht. herrlich!
meer ist mehr.......
langsam bekomme ich eine Ahnung,
welche Aussichten Dein Blogmotto eröffnet!
das motto habe ich von georgette dee geborgt, laut wikipedia eine "deutsche Kunstfigur",darüber hinaus eine "eingetragene wortmarke". in wirklichkeit aber ist sie eine markige figürliche wortkunst, in deren adern neben sekt und wodka definitiv das mehr rauscht. sehe ich seit 1996 jedes jahr 1x in meiner zweitheimatstadt.
auch hübsch übrigens friedrich küppersbusch vor vielen jahren über fidel castro: "der alte mann und das weniger".
dazu wieder die dee: "ich bin ja zerfressen von hoffnung".
hiddensee hätte ich ja gern zu ddr-zeiten erlebt, das muss prerow in potenz gewesen sein. seit fünf jahren reise ich nun hin, und jedes jahr die angst, sie könnten den hauptweg in kloster asphaltiert haben. allerdings: ist die gelbe (!) telefonzelle hinter diesem busch ist inzwischen wech.
... auch Du rauschst schön mit den Wörtern dahin,
meerreiche, kunstfertige kloetzerin.... :-))
... da schmilzt doch glatt das eis im ufernahen brandungsbereich ...
"bei eis ist der horizont vergangenheit"?
- aber das Foto mit der gefrorenen Brandung gefällt mir besonders gut, wenn's taut, leidet der Laptop?
Ich war mal auf dem Darß aber nie in Prerow, aber jetzt würde ich gern mal hin. Danke, liebe Kay.
Diese schöne Sprache:
"Prerow ist im Winter menschenleer, der Apfel geschält, die Schlange gezähmt. Der Ur-Wald ist vereist."
fotos tauen nicht, die verdunsten ...
leider war ich nicht im vergangenen winter dort - da waren die eis-wellen meterhoch und man sah nicht, wo der strand ins meer übergeht (ich habe foto-dokumente, leider nicht digital), so etwas sieht man sicher selten.
lieber weinsztein, wie geht das: darß ohne prerow? ich mein': der edeka hat länger auf als in zingst. der west-strand ist mit nichts zu vergleichen. wo wart ihr denn?
.... so hoffe ich auf die erste
Foto-Ausstellung (nicht-digital...:-))
von diesem komplett-eis-erlebnis 2010 habe ich zu weihnachten ein analoges, in leinen gebundenes fotoalbum bekommen. das finde ich sehr schön 80er, sicher hält es auch länger. und allein das blättern, bis die finger klirren ...
....dann wünsche ich Dir,
dass die Fotos nicht verdunsten......
Das war mal ein schönes Abschalten von der Arbeit, so zwischendurch in der Pause. Wenn ich an die Ostsee denke, schmilzt in mir das Eis, und das bei Bildern aus jeder Jahreszeit herbeigezaubert. Es ist ein Landschaft, die prägt, jedenfalls, wenn man in ihr aufgewachsen ist.
Eine Landschaft die im Sommer Ströme von Urlaubern in ihren Bann zieht, obgleich sich ihre wirkliche Schönheit erst abseits des menschlichen Getümmels offenbart, also eher außerhalb der Saison. Ich mochte beides, die vielen Menschen, die kamen und wieder gingen, sowie die Stille, das Verschmelzen mit der Natur um mich herum. Und heute? Bin ich froh, wenn ich kommen kann und immer ein wenig traurig, da ich wieder gehen muss. Aber insgesamt leben die Eindrücke in mir weiter und verheißen mir eine tiefere Verbindung, als zum Regierungscamp(x-te Staffel) mit all seinen politischen mehr oder weniger leeren Reden, die mir wiederum nichts als Schein verheißen....
mensch, da muss ich mich doch gleich dranhängen,
die dee - ich war fan von 1990 - 2004, danach tats zu dolle weh -
"werfe mein glück in den himmel und wer es auffängt der ist mein zuhaus"
www.zeit.de/1991/37/zehn-frauen-will-ich-sein
es gab jahre, da fand ich die abende nicht ganz so gelungen. aber irgend etwas blieb immer hängen.
hier noch ein paar zitate aus den „metaphrösen“ Conférencen:
„ich bin ganz außer sich“
„Es gibt Getränke, die mit keinem Kleid zurechtkommen.“
„Meine Musik hört man, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.“
„Wenn man keinen Nachwuchs hat, wird es schwer, einzuschätzen, wie alt man ist.“
„Wenn man einem Tintenfisch begegnet, muss man auch schreiben.“
Liebe Kay,
ist lange her, während einer zweiwöchigen Delegationsreise in den Bezirk Rostock gab es auch einen Darßausflug. In Ahrenshoop gab es sehr leckeren Aal grün.
verstehe, nach aal, ich welcher farbe auch immer, kann sich kein mensch mehr bewegen. ich bin geheilt, seitdem mal bratkartoffeln dabei waren - das ist im grunde tödlich.
Oh wie erotisch! Aber:
Ganz frisch geräucherter Aal, dazu Wodka: köstlich!
Aal Bratkartoffeln: viel zu viel fett!
Aal grün mit dieser köstlichen Sauce, mit Baguette oder Pellkartoffeln: hmm
Aber sich aalen...
Das Paradies. - Klingt aber doch nicht so ganz einfach nach reinem Glück. Aber vielleicht höre ich die Grasflöhe husten...
Mein Kindheitsparadies, das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin und die Gegend drum herum, existiert nur noch in meinem Kopf. Nein, es wurde nicht planiert, es ist materiell kaum verändert. Aber es zieht mich nichts mehr dahin.
Da unsere Eltern nicht mit uns groß verreisen konnten, war ich ein paar mal in einem Kinderferienlager. Das Areal hab ich letztes Jahr anlässlich einer Radtour nach fast 40 jahren wiedergesehen. Ist jetzt auch noch eine Art Jugendbegenungsstätte, überbaut mit modernen Bungalows. Der See ist noch so, wie ich ihn erinnere.
Ich erinnere mich, aber ganz nüchtern irgendwie, an die paradiesischen Zeiten, als ich noch überhaupt nicht auf die Idee kam, der Horizont könnte aus Pappe sein.
Inzwischen kam ich an viele Orte, an denen es paradiesisch war. Aber wie das so ist mit Paradiesen, wenn man nicht brav ist, wird man vertrieben. Ich hab mir irgendwann gesagt, unbrav sein macht auch Spaß, und es gibt genug Paradiese. Horizonte konnen aus Pappe sein, das heißt aber nicht, dass hinter Papphorizonten nicht doch was ist.