Diesmal mache ich alles richtig. Denke ich. Statt wie geplant am 23. Dezember die Geschenke durch die halbe Republik zu fahren, begebe ich mich schon einen Tag zuvor auf die Bahn, wie wir in Sachsen sagen, was sich als sehr vorausschauend erweist, denn danach ist Brandenburg dicht. Also die Straße blitz-vereist. Nicht gut, wenn man mit dem Bus von Bernau in die Wälder muss. Aber da bin ich ja schon.
Wobei die Abwesenheit vernünftiger Tagespresse in den einschlägigen Notverkaufsstellen ein Gefühl von Einsamkeit verstärkt, das in diesem Landstrich eher wetterunabhängigen Bedingungen zuzurechnen ist. Hin und wieder denke ich an Leipzig.
Es bleibt sogar ein Tag mehr Zeit, sich den familienähnlichen Strukturen anzupassen, zwischen Gans und Schlaf, Märchenfilm und „Lauterbacher Tropfen“ Harmonie zu suchen und zu finden, nicht ohne Zuhilfenahme einer Flasche Prosecco versteht sich, alles schön soweit.
Am Tag 2 nach Stunde 0 aber muss sie sein: die Rückreise. Am Vorabend schon vermeldet die Tagesschau, dass die Leipziger Verkehrsbetriebe den Straßenbahnverkehr eingestellt haben. Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr. Und was sagt die Bevölkerung? Sie freut sich über weiße Weihnachten und bemerkt nur am Rande, dass es mit Nahverkehr noch schöner wäre. Ein Gefühl tiefer Zuneigung ergreift mich.
Der Heidekrautexpress um 11.36 Uhr sollt es sein und mich nur S-Bahn bringen, diese dann zum Zug fahren und der mich nach Leipzig schaffen. Kein großes Ding und alles womöglich vor dem ganz großen Rückreiseverkehr.
Der Vorortpendler ist pünktlich wie die Bahn im 20. Jahrhundert. Auf dem S-Bahnhof Karow jedoch warten schon verdächtig viele Menschen, einige Nasen schimmern bläulich. Ich suche die Nähe eines jungen Mannes mit XXL-Lebkuchenschachtel auf der steht „Lebkuchen XXL“. Vielleicht können wir die noch gebrauchen. Die Anzeigentafel verspricht: Bahn in 11 Minuten. 10, 9, 8 … 12. Aha.
Da hebe ich das Rauchverbot auf und bin nicht die einzige. Irgendwann kommt die Bahn und fährt sogar weiter. Schritttempo. Ich möchte sie streicheln und ihr Mut machen. Bei der Anfahrt auf Pankow-Heinersdorf überholt uns ein Hund. Zumindest wäre es möglich gewesen. Ein Paar macht geschmacklose Witze in denen die Wörter „Heizung“ und „Ausfall“ vorkommen. Bornholmer Straße: „Der gegenüberstehende Zug fährt zuerst.“ Wohin? Außerdem steht da gar kein Zug. Dann rast einer durch. Was sie wohl jetzt in Leipzig machen?
Potsdamer Platz: „Alles aussteigen, dieser Zug wird ausgetauscht.“ Ich möchte ihn peitschen. In diesem Moment verlässt mein Anschluss den Bahnhof Südkreuz.Vielleicht. Vielleicht hat auch er Verspätung, sind wir gar Teil eines fein abgestimmten Systems?
Sind wir nicht. Der Liter Tee im Rucksack wird immer schwerer. Gleichzeitig steigt der Blasendruck. Leider kann ich den Aufenthalt in Südkreuz nicht dazu nutzen, mich zu erleichtern. Das Schließsystem der WC-Anlage erlaubt keinen Zutritt mit Gepäck. Ich muss an Stammheim denken.
Überhaupt ist Südkreuz nicht der Leipziger Hauptbahnhof, was in diesen Stunden aus mehreren Gründen bedauerlich ist. Mein Koffer und ich füllen einen Zeitungsstützpunkt, immerhin: Es gibt vernünftige Tagespresse und eine kurze Aufwärmphase.
Ich treffe bekannte Gesichter aus dem Heidekrautexpress, lockere erneut das Rauchverbot und lese zur Zerstreuung fremde Anzeigentafeln: Der Zug aus Paris hat 8 Stunden Verspätung. Statt beruhigend zu wirken, lärmen die Lautsprecherdurchsagen in zwei Zungen. So ist auf Deutsch zu erfahren, dass der ICE nach München 10 Minuten später komme, auf Englisch sind es 15. Am Ende hätte ein Franzose (nein, kein Pariser, das nun doch nicht) Recht behalten, kommt aber nicht zum Zuge. Der Kanon der Durchsagen ergibt ein Lamento der Mobilität: Störung – beachten Sie – später – Entschuldigung – eintreffen – etwa 20 – wetterbedingte – Bahnsteig – voraussichtlich – Minuten …
Im Halbschlaf erscheint mir ein Hund, der ein Mäntelchen trägt, auf dem „Beschleunigung“ steht. Da ruft jemand „Sitz!“ Es ist Frau Holle, sie steht vor einem Weihnachtsbaum, an den Kinder ihre Wünsche gehängt haben. Um sie herum Goldmarien und Pechmarien, einige tragen Uniformen. Sie schaut durch eine randlose Brille und spricht: „Dieser Hund gehört zu Deutschland“. Dann schüttelt sie den XXL-Teppich und heraus rieselt Zeit, sehr viel Zeit ...
Kommentare 32
auf heut in einem jahr
prostet rotkäppchen noch dem wolfe zu
und entschwindet fluggs
in die wunderweisse winterwelt
entschleunigungs-grüße
lausemädchen
dem wulffe, fürchte ich, lausemädchen, dem wulffe.
grüße zurück!
Liebe Kay,
Du schreibst so schön, ich lese Deine Beiträge sehr gerne.
Vom Prosecco rate ich Dir ab. Der besteht meist aus zusammengeschütteten Weißweinsorten, mit Kohlensäure versetzt. Bei fortgesetztem Genuss könntest Du irgendwann eine eigene Sodbrennerei aufmachen.
Die Alternative: Crémant. Das ist Champagner, der nicht aus der Champagne stammt und daher nicht so genannt werden darf. Crémant ist bedeutend preiswerter als Champagner und sehr oft bedeutend besser.
Dir wünsche ich ein köstliches Neues Jahr schon jetzt. Bist ja nur noch selten hier, leider.
Danke, mitreisen hätte kaum mitreisender sein können.
Bevor ich nun auch real in schöne Träume versinke, muß noch gesagt werden, liebe kk, wie schön mich dein Text an vergangene Erlebnisse erinnert und in die entsprechenden Stimmungen versetzt hat. An eine ähnliche Überlandfahrt am Heiligabend in ein Kuhdorf nahe des Thüringer Walds, in einem alten Rumpelbus, wie ich ihn als Wessi nur noch aus alten Heimatfilmen kannte, Erfahrungen und Erlebnissen entgegen, die sich mir tief eingebrannt haben.
Oder an meine erste Fahrt in die DDR, an einem Tag mit Blitzeis, Sturm und Schnee, die Wäsche hing waagerecht an der Leine längs der Strecke, etlichen Stunden Verspätung im eiskalten Abteil, Grenzkontrolle mit Maschinengewehr im Anschlag, Stiefelknallen, Hundegebell, die Stimmung unbeschreiblich. Essen und Trinken waren schon ausgegangen, als ich, endlich am Ziel, mit Migräne und Koffer direkt aus dem Waggon raus in eine Schneewehe hinein stolperte. So begann für mich das Abenteuer des real existierenden Sozialismus auf einem ungefegten Bahnsteig, von dem ich nicht eine Minute missen möchte.
In diesem Sinne
weiterhin schöne Fahrten und liebe Grüße und die besten Wünsche!
Prosecco - zu deutsch Kellergeister. Auf deutsch würde das doch niemand saufen wollen, aber auf italienisch finden es (fast) alle totchic. Der Mensch will beschissen werden, wie's aussieht.
So ist es, liebe Titta.
Das Zeug hieß Mosel-Kellergeister und galt damals als so genannter Petticoatstürmer.
Nicht zu Unrecht, wie ich erinnere.
Wie schön,dass Du angekommen bist, liebe k.k.,
so kann man geruhsam in Deinen Nöten schmökern.....
Ihr Lieben, wenn es um Qualität ginge, wir redeten anders. Allein: Es ging um Wirkung. Und die wiederum, ummämtelt vom Anlass, war die erwünschte.
Im wirklichen Leben bevorzuge ich - neben der oft umständehalber erwähnten Weißweinschorle - den Jahrgangssekt an Traube gebunden. Wobei der Prosecco wenigstens immer trocken ist. Und, nebenbei, Südkreuz würde ich sogar Rotkäppchen halbtrocken rot ... nein, würde ich dann doch zurückreisen.
nun, herr friedrich, das käme auf den versuch an. aber ich will Ihnen nicht drohen.
liebe titta,
ich will ja nicht die ddr schön schlechtreden, aber ein erwartetes erlebnis ist natürlich, so es eintritt, immer ein erlebnis. so ging es mir ja auch. alles andere wäre, bei der nachrichtenlage, eine enttäuschung gewesen. dieses maschinengewehr-stiefelknallen-hundegebell nicht erlebt zu haben, hinterlässt dennoch keine leerstelle. das müssten wir wirklich mal austauschen!
liebe grüße!
lieber archie,
das schönste war, dass die straßenbahn in leipzig dann doch (auf zentralen Strecken) fuhr. so ursprünglich habe ich die gewalten selten erlebt. zum letzten mal am 7. oktober 1989. erregt nur, wenn man eine chance hat anzukommen.
Hallo kay,
ich hoffe, Leipzig ist Dir noch teurer und lieber geworden, denn etwas,was man schwer erreicht, soll einem doch noch teurer und lieber...hihi.
Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich schon ahnte, dass Du mal wieder - ohne zu salutieren - bei mir vorbei gefahren ist. Aber dran gedacht habe ich manchmal, wenn ich einen Zug gesehen habe vom Fenster aus.
Und dann sollte man ein Stück schreiben: A dog named acceleration"
Guten Rutsch ins Neue Jahr
an Dich
Titta erinnert - passend zur Jahreszeit - daran, dass der "(K)alte Krieg noch nicht vorbei ist.
liebe magda,
ohne zu salutieren? also: gestanden habe ich jedenfalls. aber so lange kann kein mensch die hand an die bommelmütze legen, wie die bahn gebraucht hat, euer haus zu passieren.
"a dog named acceleration" - denkst du an petras? schimmelpfennig?
guten rutsch!
Habt ihr ma Prosecco aus Bassano del Grappa versucht??
kk yaşasin!
:-))
Ich denke morgen drüber nach (Scarlett O' Hara)
Liebe kk,
so eigenartig es klingt, diese Erlebnisse, mit den damit verbundenen Erfahrungen, möchte ich nicht missen. Die damalige Grenze, in meinem Kommentar nur am Rande erwähnt, war in der Tat eine seelisch-körperliche Erfahrung. Mit dem gewünschten Ergebnis: Einschüchterung. Und der anschließendem Scham, wie schnell und gut das funktionierte, wie einfach es ist, einen Menschen nur durch das äußere Szenarium zu beeindrucken und zu beeinflussen.
Erwartet hatte ich das nicht, weil ich mich einfach ziemlich ahnungslos auf die Reise gemacht hatte. Aber es macht etwas mit einem, wenn man bei jedem Grenzübertritt abwägen muß, gegen welche Schikane man sich mit welchen Konsequenzen zur Wehr setzt, auf welche man sich wiederum einläßt, um diesen Grenzübertritt nicht zu gefährden. Die Anpassung ans System von außen her eben, die eine Ahnung von der Anpassung im Inneren eröffnete.
Interessant fände ich in dem Zusammenhang die "Außenwahrnehmung Ost" auf die "Anpassungsmechanik" im Westen. Das müßten wir wirklich mal austauschen!
Herzlich Titta
"Titta erinnert - passend zur Jahreszeit - daran, dass der "(K)alte Krieg noch nicht vorbei ist."
Nee, das tat Magda, weil das offenkundig ihr Thema ist, warum auch immer, während Titta anderes beschäftigte.
@weinsztein
Petticoats gehören nicht mehr zu meiner Erinnerung, aber Kellergeister war wohl das erste alkoholische Getränk, was ich kosten durfte.
Vielleicht kommt es daher, daß ich heute, zwar selten, aber in gewissen Momenten und mit einer gewissen Begeisterung Bellini konsumiere. Und erkläre jetzt bitte nicht, was das ist;-)
Also, immer wieder schön in der Presse zu lesen, wie es einem in der Schneesafari so ergeht. 60 Cent und ihr wisst, ihr seid eingeschneit. Der derFreitag benötigt es länger und ist teurer für diese Information.
Wärste mal mit DR-Airlines nach Bernau geflogen.
Und...
die DB untersucht, warum Hitzeprobleme nicht in der Winterzeit passieren.
Free Michail Chodorkowski !!!
Der Anti-Faschist und Putin-Gegner wurde heute in einem politischen Prozess erneut verurteilt; er ist unschuldig!
de.wikipedia.org/wiki/Michail_Borissowitsch_Chodorkowski
Diese Geschichte hat etwas Anheimelndes. Ich habe Sie gern gelesen und was das Komische ist, die Bilder mit Hund und XXL Lebkuchen, die die Geschichte erzeugt, die bleiben in meiner Erinnerung lebendig. Worte können offensichtlich mehr sein, als nur Worte.
Einzig bei dem Bild mit dem erhöhten Blasendruck (an Stammheim denken) da hörte ich Musik. Es erinnerte an "under pressure" von den Stones...
na, luggi, das klingt alles banal, bisschen schnee und kein anschluss, da, in berlin. aber inzwischen finde ich es wirklich besonders, in einer stadt zu wohnen, die nicht in der lage ist, den straßenbahnbetrieb aufrecht zu erhalten. ich wohne ja zentral und kann laufen, aber die menschen in den randbezirken haben tatsächlich ein problem. ein interessantes, wie ich inzwischen finde. jedes kind verlangt danach, seine grenzen gezeigt zu bekommen. wer sagt, dass das aufhört?
mensch, sexpower, an sibirien hatte ich gar nicht gedacht. aber stimmt natürlich!
im ernst: jetzt hat die sogenannte zivilisierte welt mal gelegenheit, angewandt solidarisch zu sein.
und all das ist noch die gute variante. neulich hat der zug fulda - leipzig in eisenach 20 minuten pausiert, weil die "bordtoiletten" nicht funktionierten. gottlob war das"bordrestaurant" außer betrieb, nachdem das personal "den zug verlassen" hatte. vermutlich waren die kollegen austreten in fulda ... über bord gegangen, wenn wir so wollen.
liebe titta,
die erwartung bezog sich vor allem auf die witterungsbedingten störungen, nicht deine grenz-erfahrungen. die hat wohl kaum jemand vorausgesetzt, nehme ich mal an. aber dann, wenn ich jetzt darüber nachdenke, wieder doch, oder? ich weiß davon nur aus dem fernsehen, klar. und du von mir ja auch, meiner binnensicht als ostberlinerin, deren blick aus dem kinderzimmer auf die mauer fiel. und auf die kaufhalle, das denkmal für den großen und den kleinen andreas, die ehemaligen concordia-säle, ein pflegeheim, den spielplatzund ganz im eckchen auf den ostbahnhof, aus dem die züge abgefahren waren.
es fällt mir tatsächlich schwer, mir Eure "anpassungsmechanik" vorzustellen, da ich stets nur von freien menschen aus einem freien land erfuhr. ihr wart die seife, wir das wasser. da denkt man an duft, nicht an schlieren.
die scham, von der du schreibst, die wäre im jahr 20 ein ausgangspunkt der annäherung, wenn nicht sogar eine tür.
herzlich
kay
@Prickelsprudel
"Worte können offensichtlich mehr sein, als nur Worte."
Deshalb gibt es ja die feine Unterscheidung von Worten und Wörtern in der deutschen Sprache, auch wenn der ahnungslose Duden behauptet, der Gebrauch sei identisch. Ist er aber nicht, denn du meinst ja genau diesen Unterschied:
Worte können offensichtlich mehr sein als nur Wörter.
Liebe kay,
ich erfuhr ja umgekehrt auch nur von den armen, eingesperrten Menschen. (Wer über den Preis der westlichen Freiheit reden wollte, der wurde aufgefordert, doch nach drüben zu gehen.) Als ich besagte Grenzstation zehn Tage später wieder passierte, dann mit der neuen Erkenntnis, daß ich keine Eingesperrte, sondern eine Ausgesperrte war.
"ihr wart die seife, wir das wasser. da denkt man an duft, nicht an schlieren."
Ein wunderschönes Bild. Und so passend. Denn die schönste Seife ist ohne Wasser völlig ohne Wirkung und daher nutzlos. Der Duft sollte doch nur ablenken von anderen, unangenehmen Gerüchen und diese möglichst überdecken.
"die scham, von der du schreibst, die wäre im jahr 20 ein ausgangspunkt der annäherung, wenn nicht sogar eine tür."
Genau deshalb habe ich von ihr geschrieben.
Herzlich
Titta
@Titta
Ja. So war's gemeint.
:-)
Mann freut sich, wenn sie da sind und ist dankbar, wenn sie einen nicht dastehen lassen wie einen ungebildeten Idioten - obwohl sie's könnten.
@SexPower
Wattn, seit wann setzt Du Dich für Oligarchen ein? Wen stört es, wenn eine Krähe der anderen ein Auge aushackt?
@kay
"angewandt solidarisch", schön gesagt, man könnte auch formulieren "funktionale Solidarität"...