Fallen. Fliegen. Tulpenblätter. - Martin Walser zum 85.

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„Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr, ich war so oft in Amerika wie in Lindau.“ Sagt Martin Walser. Das ist auf der Leipziger Buchmesse, und er ist da, sich ausfragen zu lassen über sein jüngstes, das (Tage-)Buch „Meine Lebensreisen“, das der Corso Verlag ihm zum heutigen 85. Geburtstag zu Füßen legt. Von Rowohlt gibt es eine Versuchung: „Über Rechtfertigung“. Beide schmücken: das große, schöne Buch wie auch das schmale mit Gewicht.

„Schreiben ist eine Lebensart“, sagt Martin Walser, „eine Angewohnheit“. Und: „Ich kann nicht Zugfahren ohne zu schreiben.“ Zur Leipziger Buchmesse 2012 kam er „ohne Angst und Hunger“. Am 15. März 1981 beschrieb er es so: „Hier ringt eine Welthälfte mit den Folgen einer Politik, von der sie sich nicht mehr befreien kann.Wir empfinden kein Mitleid, nicht einmal Bedauern. Unsere Rechtfertigung: Die hätten mit uns auch kein Mitleid, wenn sie die Stärkeren wären. Die Versuchung, hierzubleiben bei den Schwächeren, bei den Verrückten, Kranken, Erschöpften, Ungeschickten. Aber im Bad kriecht ein Käfer verschreckt herum, ich wage nicht, ihn zu töten. Es kommt mir vor, das Bad gehöre ihm.“

Vielleicht erkennt man einen Schriftsteller in seinen Tagebüchern.
3. August 1973: „Heute Nacht ging ein Messer durch mein Gesicht, die Falten zu schärfen.“
11. Februar 1978: „Fallende Tulpenblätter vermitteln den Eindruck von großer Schwere.“

Martin Walser kam 1981 zur Leipziger Buchmesse, um Gert Neumann zu treffen, den Autor des Romans „Elf Uhr“. Er war das Wesentliche. Das, sagt Walser heute, „war ein Anlass, wie er in keinem anderen Land denkbar ist“. Er bemerkte „die Abwesenheit von Schick, Dressur und Schau“ sowie „die andere Verführung: eine warenlose Welt.“

Religion und Literatur können zwei Seiten einer einzigen Medaille sein, schreibt er heute, und die heiße eben: unser Dasein. Diese Einbildung werde genährt dadurch, dass Theologen „ihre Sprache und ihre Vokabulare in den Dienst einer Lektüre stellten, die von ihnen eine Art Verzicht auf bewährte Denk- und Empfindungsgewohnheiten erbittet“. So steht es im Vorwort zu den Gesprächen über Martin Walsers „Mein Jenseits“, die - wie die Novelle - bei Berlin University Press erschienen sind. Noch ein Geschenk.

„Die Bedingung, die allein den Glauben produziert, heißt Ausweglosigkeit. So lange noch etwas möglich ist, glaubt man nicht“, lässt Walser in „Mein Jenseits“ wissen. „Glauben ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Eine Kraft. Du spielst den Ball. Er kommt zurück, je nachdem wie du ihn gespielt hast.“ Sätze wie fürs Poesiealbum. Sätze wie aus einem Tagebuch. „Je mehr einer den Prozess gegen sich betreibt, desto mehr wird daraus Ironie.“ Walser scheint den umgekehrten Weg zu gehen.

Und er sucht Rechtfertigung. „Was wir hinter uns gelassen haben: Rechtfertigung überhaupt von, sagen wir, oben zu erwarten. Heute genügt es, dass es einem gut geht, dann ist der Rechtfertigungsbedarf schon gedeckt." Weil Walser gern sagt, dass nichts ohne sein Gegenteil wahr ist, schlägt er eine Kultur der Selbstwiderlegung vor, um die Kultur des Rechthabens wenigstens ein bisschen fortzubilden. Ihm scheint, dies „sei fast eine Chance, in einer auf Rechthaben gegründeten Gesellschaft eine Bewegung in Richtung Rechtfertigung zu ermöglichen".

Das Tagebuchschreiben ist ein anderes, es ist nicht eine reduzierte Prosa, sagt Walser. „Ich habe niemals einen Tagebuchsatz korrigiert. Ich kann streichen, aber ich darf nichts verbessern.“ In „Jenseits der Liebe“ klingt 1976 reduzierte Prosa so: „Dieser Abteilgeruch riecht nach nichts als nach diesen Abteilen zwischen Ulm und Friedrichshafen. Es riecht wie in einer Sakristei, in der man Unterwäsche in Schweineschmalz gebraten hat.“

Und 1993 in „Ohne einander“: „Der Beitrag ihres Mannes zur Katastrophe dieses Sohnes bestand in einer regellosen Folge von Aufschrei, Illusionszüchtung und Flucht. Wenn er sich nicht etwas vormachte, hielt er den Zustand seines Sohnes nicht aus. Auch half ihm der Alkohol. Ein Alkoholiker ist eine ungeheure Steigerung dessen, was ein Mann ohnehin schon ist.“

Heute: „Lebenslänglich SPD, das stelle ich mir vor wie eine Allwetterkleidung fürs Bewusstsein."

Martin Walsers Dasein, das ist halb außer sich und halb bei allen. Auf immer neuen Wegen kommt er zu sich. „Ich habe mein Leben als Schriftsteller auch im Reizklima des Rechthabenmüssens verbracht und habe erlebt, dass die ablenkungsstärkste Art des Rechthabens die moralische ist.“

Dieser 85-Jährige: Versucher, Verführer, Reisender.

Martin Walser: Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Rowohlt Verlag; 107 Seiten, 14.95 Euro
Martin Walser: Meine Lebensreisen. Corso Verlag; 152 Seiten, 24.90 Euro
Michael Felder (Hrsg.): Gespräche über Martin Walsers „Mein Jenseits“. Berlin University Press; 238 Seiten, 19.90 Euro

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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