Hautkontakt mit Ideen - Schernikau zum 50.

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Ronald M. Schernikau ist immer ein anderer.

Ein Abiturient, der 1980 die literarische Bühne mit einer Sensation betritt, mit der Kleinstadtnovelle, einer Coming-out-Geschichte, die mit den Worten beginnt: ich habe angst. bin weiblich, bin männlich, doppelt ... Und die mit einer Umarmung endet.

Schernikau gibt Ausweglosigkeit ein Gesicht und lässt es lächeln.

Ein bunter Vogel, der durch die Nächte Westberlins - flattert? Nicht flattert, auch nicht schwirrt.Eine Majestät der Straße, ein sehr schöner, sehr junger, sehr kluger Freund, wie Peter Hacks ihn später nennt. Beide nun ja lange tot.

Ein Kommunist, der letzte. Einer der letzten, die Staatsbürger der DDR werden wollen und werden, als ihnen bereits alle entgegenkommen. Ein einziges Entgegenkommen?

Am 11. Juli 2010 wäre Schernikau 50 Jahre als geworden.

Meine Damen und Herren,

der Eine weiß das Eine und der Andere das Andere. Ich bin Ronald M. Schernikau, ich komme aus Westberlin, ich bin seit 1. September 1989 DDR-Bürger, ich habe drei Bücher veröffentlicht und ich bin Kommunist.

Auf dem Kongress der Schriftsteller der DDR, es ist der März 1990, sagt Schernikau, Schriftsteller der DDR:

Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen.

Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen.

Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen. Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen.

Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt.

Die Rede kann man lesen im Internet. Vor einer Woche konnte man sie hören in einem Theaterraum, der dem Experimentellen dient und klein genug ist für den Hautkontakt mit Ideen. Hier, in der Leipziger Skala, hat ein schöner, junger, kluger Regisseur den ewig Anderen verdoppelt, verdreifacht. Johannes Schmit ist Jahrgang 1981. Seine Annäherung kann nur die eines Fremden sein? Dass sie die eines Vertrauten ist, liegt an beiden, liegt an diesem Schernikau, der in seinen Dreißigern, er starb 1991 an den Folgen von Aids, gezwungen war, sein Spätwerk zu liefern: Legende erschien 1999, ein über 800 Seiten starker Spiegel unerbittlichen Lobes.

Schmit fragt nicht: Was hätte Ronald (er nennt ihn Ronald, Ronalds Mutter Ellen nennt ihn Schernikau) uns heute zu sagen? Er zeigt, was er uns noch immer zu sagen hat. Zum Beispiel die tage in l., geschrieben Ende der 80er als Diplomarbeit am Leipziger Literaturinstitut, wo der Westberliner als erster Westdeutscher studieren wollte und schließlich durfte, gegen Widerstände von allen Seiten. Schmit macht daraus ein dreitägiges Festival Die letzten Tage in L.. Er lässt Schernikau ver-körpern von der Schauspielerin Birgit Unterweger. Sie schafft die Auto-Ikone nach Jeremy Benthams Vorstellung der weiteren Verwendungsmöglichkeiten von Toten zum Wohle der Lebenden. Zehn, fünfzehn Minuten dauert diese Inkarnation. Danach ist der Text, den sie spricht, ein anderer. Danach sind es die Worte Schernikaus, formuliert Ende der 80er in Leipzig - weitergedacht, nie zuende, von ihm selbst 2010 in Leipzig.

das andere ist immer auch alles andere.

ich bringe thomas eine zahnbürste mit,weil hier alles so billig ist, und beim ersten benutzen fallen die borsten raus. ich fange an, die ddr zu verteidigen.

Genie ist, wenn man gehen möchte, weil es so schön ist.

Jetzt sind die Türen offen. Die Zuschauer können Getränke holen, rauchen. Sie könnten auch schlafen, wenn sie das wollten. Oder ein Bild malen.

die fünfziger jahre waren die zeit, da die ddr von schriftstellern bewohnt wurde, die die welt formen wollten. das erstaunliche ist, die ddr-literatur war am besten, als sie die gefahr des konzepts durchschaut hatte und es noch nicht aufgegeben. - dieser punkt waren die siebziger jahre. unglücklicherweise fiel der zusammen mit den siebzigern des westens, die plötzlich ermöglichten, daß die klugheit der ddrautoren dort wahrgenommen werden konnte. prompt kam der november 76, und jetzt sitzen also die reingefallenen im westen und wundern sich.

Regisseur Schmit trägt ein Schernikau-Bärtchen. Am Tisch sitzt Birgit Unterweger und liest. Es könnte niemals enden

die totale zufriedenheit und die totale unzufriedenheit liegen sehr nah beieinander. eines ist so dumm wie das andere, sagt Schernikau 1980 in einer Talkshow zur Frankfurter Buchmesse. Und: ich kann einen schwulen zwei tage nach dem saunabesuch nicht auf freiheit ansprechen, weil er sagt: ich habe doch alles.

Ab und zu geht eine schöne Frau durch den Raum. Sie ist so alt wie Schernikau es heute wäre. Rosalind Baffoe war ein gefragtes Model. Im Theaterraum beantwortet sie Fragen aus dem Off, mal mit seinen Worten, mal mit ihren, nicht immer ist es klar zu unterscheiden.

Schernikau ist ein Model, eine Projektionsfläche. Er ist immer ein anderer.

PS: Am 11. Juli, 14 Uhr, wird in Leipzig eine Gedenktafel enthüllt – an jenem Haus, in dem Ronald M. Schernikau während seines Studiums wohnte. Universitätsstraße 20, ein Neubau. Es wird nicht viele Neubauten mit Gedenktafeln geben.

dies wurde mir soeben (12.7., 2.15 uhr) geschickt: http://lh3.ggpht.com/_mTo2gH9ddcI/TDpgRu2yECI/AAAAAAAAATw/zp3pSew6T3Q/s400/12072010141.jpg



Literatur:

Ronald M. Schernikau: Kleinstadtnovelle (Konkret Literatur Verlag)

Ronald M. Schernikau: die tage in l. Darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur (Konkret Literatur Verlag)

Ronald M. Schernikau: legende (ddp goldenbogen, vergriffen)

Ronald M. Schernikau: Dann hätten wir noch eine Chance. Briefwechsel mit Peter Hacks. Texte aus dem Nachlass (Konkret Literatur Verlag)

Ronald M. Schernikau: königin im dreck: texte zur zeit (Verbrecher Verlag)

Ronald M. Schernikau: Irene Binz. Befragung (Rotbuch Verlag)

Matthias Frings: Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau (Aufbau Verlag)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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