Krank nach System

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Alle reden über die DDR, aber kaum einer schaut hin. Die Revolutions-Nachlese dieses Herbstes ist ein rituelles Erinnern an Opfer oder Helden. Die Realität sah komplizierter aus. Doch wer darauf den Blick lenkt, der erkennt auch, wo wir heute stehen.

"Das Verhalten der Politiker erinnert im Moment an das Ende der DDR", sagt der Psychiater und Gesellschaftsanalytiker Hans-Joachim Maaz ("Gefühlsstau") und meint eine Realitätsverzerrung, das Leugnen von Fehlern. Er ist einer von vier Gesprächspartnern im Leipziger Academixer-Keller. Die Kabarettisten haben eingeladen zur Talkrunde "Wir standen uns noch bevor" - in Abwandlung des 86er Programms "Wir stehen uns noch bevor". Damals saßen auf den 250 Plätzen 250 Verbündete. Heute probiert das Kabarett neue Angebote für ein neues Publikum. Mit Erfolg zwar - dennoch: Irgendetwas fehlt. Und darum soll es gehen an diesem Sonntagmittag, um Hoffnungen, Ansprüche, Visionen.


Am 14. Oktober 1989, dem Samstag nach der entscheidenden Montagsdemo, mit der 70 000 Demonstranten friedlich den Wandel durchsetzten, gab es bei den Academixern das erste Bürgerforum, die erste freie Diskussion in Leipzig. 400 Menschen saßen und standen in dem Art-Déco-Saal. Bernd-Lutz Lange moderierte - so wie auch jetzt, gemeinsam mit Gunter Böhnke. "Die Funktionäre waren noch aufgeregter als wir, weil sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben rechtfertigen mussten", erinnern sie sich. Zum ersten Mal vor dem Volk. Da stand es sich noch bevor. Am Anfang war eine Befreiung: endlich Meinungsfreiheit. Reisefreiheit folgte. Und jetzt?


"Auch eine historisch kurze Zeit kann auf die Geschichte einwirkend wesentlich sein", sagt der Historiker Werner Bramke. Für ihn war der Mauerbau noch eine "Niederlage der DDR". 1968 wurde ihm bewusst, dass das System Sozialismus wahrscheinlich nicht zu reformieren sein wird. Zuletzt saß er (parteilos) für die Linke im sächsischen Landtag - das Mandat hat er nach neun Jahren abgegeben, weil er gemerkt habe, dass parlamentarische Arbeit nichts bewirken kann. Ob das nur Politikmüdigkeit oder schon Resignation ist, sei dahingestellt. Eine Erfahrung ist es jedenfalls. Und es drückt eine Diskrepanz aus, die auch krank machen kann.


Maaz, der zu seinem Beruf fand, weil er verstehen wollte und sich selbst verständlich machen, erlebte "das System Psychiatrie als ein Abbild des Systems DDR". Da begann er zu untersuchen: Woran werden Menschen krank? Was macht die Gesellschaft mit den Familien, mit den Kindern? Er beschäftigte sich mit Nationalsozialismus, Stalinismus, Sozialismus, und er sah: Ein hochpathologisches System ist nur möglich, wenn die Mehrheit der Bürger Fehlentwicklungen haben oder ausbilden. "Man wählt die Obrigkeit, die zur eigenen Störung passt."
Maaz hat seine Studien 1989 nicht abgebrochen. Noch immer registriert er, welche Bedingungen Menschen krank machen können und welche Möglichkeiten es gibt, sich etwa der Entfremdung zu entziehen. Man könnte sagen, dass hier der Arzt als Philosoph poitisch handelt.


Jede Therapie hat ihren Preis. "Wenn wir in der DDR jemandem halfen, der autonomer leben wollte, war der dann fast automatisch politisch subversiv", erzählt er. "Wenn heute Leute darunter leiden, Überforderungen verbergen zu müssen, und wir ihnen helfen, ehrlicher zu sein, dann sind sie auf dem Arbeitsmarkt nichts mehr wert." Doch ausschließlich nach Wachstum und Profit zu streben, ist für Maaz ein Grundfehler im kapitalistischen Denken. Er sieht die Gier und diagnostiziert Süchtigkeit. "Ja, wir leben in einer süchtigen Gesellschaft." Der kalte Entzug heißt Freizeit, von Arbeit befreite Zeit, "dort entsteht die Krise", zuerst die persönliche. Das wäre ein Weg: Ernüchterung.


Politiker, Ökonomen und Psychologen müssen zusammenarbeiten, sagt Maaz. Womöglich ist der Leidensdruck noch nicht groß genug. Womit wir bei der SPD wären. "Die Auseinandersetzung, warum Oskar Lafontaine gegangen ist, hat bis heute nicht stattgefunden. Davon profitiert die Linke". Doch das ist ein anderes Thema. Auch, warum der Bürgerbewegung vor 20 Jahren der Willen zur Macht fehlte, kann in den anderthalb Stunden nicht besprochen werden. Wäre doch diese Erinnerungs-Veranstaltung ein Anfang. Gerade, weil sie, das ist zu befürchten, an einem Ende steht.


Am Schluss des 86er Programms stand die Frage: Sind wir nun gescheitert oder gescheiter? Die Antwort lautet(e): Ja.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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