Pfeifen im Erzgebirge

Zeitgeister Gelten die "Sieben Zwerge" als ein Haushalt? Muss "Dornröschen" umbenannt werden? Gehört die Hexe zu Deutschland wie der Wolf? Wer ist gut, und was ist böse? Manche Märchenhelden hätten diese Pandemie nicht überlebt.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es war einmal eine Pandemie, wird es irgendwann heißen, und dann werden die Menschen einander nicht nur "viel zu verzeihen" (Jens Spahn), sondern auch eine Menge zu erzählen haben. Märchen und Mythen werden dabei eine Rolle spielen, mal als Verschwörungen, mal als Verdrängung. Kein Blatt Papier wird mehr zwischen Gut und Böse passen, aber ein ganzes Internet zwischen Links und Rechts und „lechts und rinks“ (Jandl) und Bund und Länder und Gesundheitsamt und RKI.

Das Bundeskriminalamt hat in dieser Woche die Zahl der politisch motivierten Straftaten bekanntgegeben, sie ist 2021 auf 47.303 Delikte gestiegen. 19.000 werden dem rechten Spektrum zugerechnet, 9000 dem linken und, jetzt kommt’s: 17.000 Straftaten seien ideologisch nicht zuzuordnen. Sie sind nur mit dem Klimawandel zu erklären, dem gesellschaftlichen. Das Medizinische ist plötzlich politisch und das Solidarische wieder.

Gesund ist, was sein muss
Das Versprechen lauert überall. Ein falsches Wort, zack wird’s politisch. Händewaschen vergessen? Politisch. Zigarette? Nur zu Hause, wo sich das soziale Leben mit Home-Office und Home-Schooling verbinden lässt. Für die Balance gibt‘s einen „Tatort“ - aber nicht mit Liefers. Besser ein Buch? Aber nicht aus dem Kanon-Regal. Das Böse lauert im Guten.

Märchen gehen immer. „Dornröschen“ zum Beispiel. Da muss eigentlich nur der Titel geändert werden. Weg von der Verniedlichung, hin zu „Frau Dorn bleibt zu Hause“. An Details der Erlösungsphantasien ließe sich noch nachbessern, auch über das Arbeitsklima in der Küche wäre zu reden. Aber sonst: Da wird so lange Abstand gehalten, wie es die Anordnung einer weisen Frau vorsieht. Ein Piks bringt nicht Unglück, sondern Zeitgewinn. Moral: Gesund ist, was sein muss.

Satire darf alles, muss aber sauber bleiben
Die Sache mit der „Goldenen Gans“ hingegen verweist auf den, wie wir heute wissen, hochgefährlichen Verzicht auf Desinfektionsmittel, von denen nämlich keine Rede ist, obwohl eine am anderen kleben bleibt, was ja wohl darauf hinweist, dass da einander berührt wurde. Deshalb heißt der Held Dummling. Die Königstochter bekommt er trotzdem, schließlich hat er sie zum Lachen gebracht. Heute gilt: Satire darf alles, muss aber sauber bleiben.

„Hänsel und Gretel“ verweist auf Zeiten der Inflation (eine große Teuerung kam ins Land). Der Achtsamkeitstrend des Waldbadens trifft auf mangelndes Orientierungsvermögen der Generation Navi. Hänsel spielt sich als Held auf und versagt. So weit, so vertraut. Die im Zuge allgemeiner Stadtflucht im Wald praktizierende Alternativmedizinerin gibt sich zwar zunächst als Vegetarierin aus, offenbart dann aber Fleischeslust. Merke: Diese Esoterikerin isst tatsächlich das Volk.

Da geht es sieben Täler weiter fortschrittlicher zu, gleichwohl bei den „Sieben Zwergen“ hygienische Standards ebenfalls ausbaufähig sind. Quotenfrau Schneewittchen wird im Erzgebirge behandelt, wie es die Frauenbewegung kaum konsequenter hätte herbeifordern können. Wäre da nicht die Unklarheit, was den Impfstatus betrifft. Mit ihrem Rat „lass keinen Menschen herein“ lag die Sieben-Männer-WG nicht zuletzt im Sinn der Kontaktbeschränkungen absolut richtig.

Rudel im Tageslicht
Schon bevor die Fledermaus zum unbeliebtesten Tier wurde, weil sie beinahe den Bau der Waldschlößchenbrücke in Dresden vereitelt hätte, büßte der Wolf hierzulande mehr Freunde ein als ein Ungeimpfter in der Kantine von Pfizer. Das geht auch auf die Outdoorfluencerin „Rotkäppchen“ zurück, deren Einsatz für die vulnerable Großmutter mit dem Satz „Ich will schon alles richtig machen" auf tiefverstandene Wokeness verweist.

Einem Dialog mit dem Wolf nicht aus dem Weg zu gehen, war sogar das geringere Problem im Vergleich zur Unfähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen. Konkret das der Großmutter. Mund-Nasen-Schutz macht es heute nicht leichter, und Augenärzte sehen infolge der Pandemie eine Zunahme von Kurzsichtigkeit bei Kindern. Das habe mit Mobiltelefonen und Tablets zu tun, mehr Tageslicht sei hilfreich. Allerdings: Da draußen lauert der Wolf. Genauer gesagt sind es derzeit 157 Wolfsrudel, 27 Wolfspaare und 19 sesshafte Einzelwölfe. Manche sind gut, andere böse.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden