Manchmal ist Public Viewing wirklich Gold wert. Wenn die Kneipen-Gäste für ein Tor der Niederlande genauso jubeln wie für die zwei Treffer der Deutschen. Wenn der Wirt den Flaggen-Wahn mit einer DDR-Fahne karikiert. Wenn deutlich wird, dass doch nicht alle ihren Wimpel in den Wind hängen, Fußball-EM für einen Angriffskrieg halten und einen Vorrunden-Erfolg für Geborgenheit.
Bei Facebook kursiert ein „Titanic“-Titel: „Stürmer-Problem gelöst: So werden wir Europameister!“ Im Hintergrund marschiert die Wehrmacht. Das Motiv stammt aus dem Jahr 2004. Also wird gar nicht alles schlimmer. Es war schon schlimm. Es scheinen nur immer mehr zu sein, die es nicht so schlimm finden.
ZDF-Sport-Historikerin Katrin Müller-Hohenstein redet sich am “Fußball-Strand” von Heringsdorf in die Herzen der Spötter. Die Tschechische Republik stehe auf der Beliebtheits-Skala bei den polnischen Nachbarn weit oben. Sagt sie, und fragt sich, wie bei so viel Freundschaft ein hinreichend aggressives Alles-oder-nichts-Spiel möglich sei. Sie fragt das zum Glück nicht nur sich, sondern Co-Moderator Oliver Kahn, der sie von den Gesetzmäßigkeiten sportlichen Wettkampfs ins Kenntnis setzt.
Das klingt für sich genommen banal, erzählt aber von einer Gedankenlosigkeit, die zusammen mit anderen Details wie dem A-Klasse-Werbe-Spot „A wie Angriff“ und Mickie Krauses Männer-Chor-Hymne: „Orange trägt nur die Müllabfuhr“ auf kürzestem Weg in Deutschtümelei führt. Ein Lied, ein Spruch, ein Bierchen noch. Und dann zum „Siiieg“.
Weil zur zünftig chauvinistischen Kraftmeierei unbedingt die Zutat Sex gehört, werden die Fernseh-Zuschauer am Samstag mit der Pointe bei der Stange gehalten, „griechische Sehenswürdigkeiten“ seien „eigentlich nur noch neben dem Platz zu bewundern“. Die Kameras schwenkt auf eine üppige Blondine.
Doch wer weiß, vielleicht wurde die Schöne schon eine halbe Stunde vor dem Spiel herangezoomt und von den Fiktion-Regisseuren der UEFA so ein bisschen nachträglich ins Live-Bild geschnitten? Seit Jogi Löws Balljungen-Schäkerei ist sicher, dass auch hier nichts sicher ist.
Wozu der Jogi-Fake? Weil’s schön aussieht. Gute Stimmung - gutes Image. Massen-Fanmeilen wirken wie die Verlängerung der Politik mit vergleichbaren Mitteln. Vor den Leinwänden sitzt die Wähler-Klientel, wie sie gern gesehen wird: nationalgestimmt, werberelevant, ruhiggestellt.
„Aber am Ende ist es auch bei einer Europameisterschaft nur Fußball”, befand am Samstag der Live-Reporter. Schön wär’s. Es ist vor allem ein Geschäft – mit Bildern, Gefühlen, Bedürfnissen. Die Freiheit wird zurzeit am Bratwurststand verteidigt.
(zuerst hier)
Kommentare 9
Es gibt ja viele, die gänzlich schlechte Laune verbreiten, indem sie jede "national gesinnte" besoffene Dumpfbacke zum Signum einer Fussball EM/WM schlechthin nehmen.
Dieser Text nicht. An den richtigen Stellen und mit abgewogener Sensibilität darf und soll man auf zweifelhafte Aspekte aufmerksam machen. Danke dafür, Kay!
Gehört gedruckt!
Was für ein gelungener Text! Und wie Recht du hast: Wenn es beim Fußball doch wirklich um Fußball ginge...
So einen Mickie Krause gibt es wirklich? Und den Gröler von der Müllabfuhr auch? - Dann habe ich nun ein schlechtes Gewissen. Ich war bisher bereit, den Begriff Pop-Patriotismus, ihn allerdings als Einstiegsdroge bezeichnend, zu akzeptieren. Erschüttert sehe ich ein: Es gibt keinen Pop-Patriotismus! Es ist auch nur der übliche Scheiß-Nationalismus! Er unterscheidet sich vom guten alten wilhelminischen nur dadurch, dass er noch illusionärer, sprich dümmer geworden ist.
Du hast hier eine Ekel-Sammlung zusammengetragen. Danke!
oh, danke! ich fürchtete schon, dass mir genau das passiert: schlechte laune verbreiten. aber dagegen hilft ja gemeinsames fuÃball-gucken mit gleichgesinnten. übrigens fällt zumindest in unserer kneipen-fan-meile auf, dass bei spielen ohne deutsche beteiligung kaum einer hinschaut. gestern haben immerhin die italiener zwei tresen weiter gefeiert. mal sehen, wie das ab donnerstag wird.
danke Dir! hast Du Dir mal dieses nachberichterstattung gegeben? ganz groß ist auch "waldis EM-club", vor allem zum ende hin, wenn wirklich alle im publikum betrunken zu sein scheinen. soewtas sieht man im öffentlich-rechtlichen sonst nur bei reportagen aus problem-vierteln.
In der Ekel-Sammlung gibt es auch noch einen schlimmern „Mario Gómez Song": Schieß uns zur Nummer 1 und so. Mach es für Deutschland, oder so ähnlich. Wie schön sind dagegen die Gesänge der Iren im Stadion!
Der absolute Höhepunkt der Geschmacklosigkeit war für mich bisher Bruce Kapusta, der in der ehemaligen Kölnarena (ich weigere mich sie anders zu nennen) zum Public Viewing vor den Deutschlandspielen auftrat. Ein Freund von mir hat da gearbeitet und mir diesen Link zukommen lassen. Ich brauchte einige Zeit um zu verstehen, dass das kein geschmackloser Scherz war.
Der Song heißt doch tatsächlich...
http://www.youtube.com/watch?v=XK2-YG5o0c4
Dass das gemeinschaftliche Fußballschauen ind er Arena nun wegen wiederholtem Ärger mit Betrunkenen Randalierern und Begalos abgesagt wurd wundert mich nun gar nicht.
das ist ja furchtbar! ich habe das video nach fast einer minute abgebrochen ... heute abend am tisch fanden alle, sinngemäß: "wenn sie gut sind, sollen sie gewinnen, aber ich habe angst vor den folgen." nur fußball? wenn's mal so wäre.
Nein, auf die Berichterstattung habe ich verzichtet. Auf Public Viewing übrigens auch.