Tag 1 - Das Buch, das du zurzeit liest

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Das Buch, das ich gerade lese, hat 1035 Seiten. Ich beschnüffel es, wie alle, zunächst von verschiedenen Seiten, probiere Klappentext und Papierqualität, prüfe Schriftgröße und sowieso immer den Duft. Wenn es einen Schutzumschlag hat, schlage ich den ab und erhoffe Leinen. Ich lasse sie Seiten durch die Finger gleiten wie ein Daumenkino. So freunden wir uns an.

Das Buch, das ich gerade lese, hat keinen Schutzumschlag, hatte es wahrscheinlich nie. Es ist gleich in Leinen gebunden, das Papier ist dünn, aber griffig. Es hat einen Gelbstich. Das Vorsatzpapier ist nicht besonders edel, hat aber ja bis heute gehalten.

Über dem Titel steht der Name meiner Großmutter, mit Kugelschreiber geschrieben. Eine Widmung hätte mehr Fragen aufgeworfen. Wann der Roman geschrieben wurde, ist nirgends auszumachen. Dafür die klare Ansage:

Lizenzausgabe für die Deutsche Demokratische Republik
Der Vertrieb in Westdeutschland und Westberlin ist nicht gestattet

Ich will es zwar nicht verteiben, habe aber dennoch das schön-schaurige Gefühl, irgendetwas Unerwünschtes zu tun.

Beim Daumenkino-Test bleibe ich an einem Zettel hängen. Zwischen den Seiten 334 und 335 liegt er, ein A5-Blatt, in der Mitte gefaltet. Warum hier? Ich lese:

Der dritte Tag brachte die zarte Erlösung, brachte sie gleich in der Frühe. Es war ein herrlicher Herbstmorgen, sonnig und frisch, mit grausilbrig übersponnenen Wiesen.

Auch weiterhin keine Gründe für ein Lesezeichen. Von innen aber, aufgefaltet, ist es ein Zeitzeichen - sehr vergilbtmit lila Schreibmaschinenschrift, ein Ormig-Abzug. Es ist eine Einladung an die Genossin XY zur Mitgliederversammlung am 18.2. 1971 in der Karl-Marx-Oberschule, Zimmer 14. Auf der Tagesordnung stehen:

1. Aktuelle-politische Probleme , die sich aus dem 15. Plenum unserer Partei ergeben.
2. 25 Jahre - SED
3. Vorbereitung der Parteiwahlen

Im übrigen sei die Teilnahme aller Genossen unbedingt erforderlich.

Nun mache ich mir Sorgen. Hat meine Urgroßmutter, an sie ist die Einladung adressiert, die unbedingt erforderliche Teilnahme gewährleisten können, da doch die Erinnerung in diesem Buch lag? Oder hat sie die Lektüre an dieser Stelle abbrechen müssen, weil die Probleme nach dem 15.Plenum doch gravierender waren? Hat ihre eigensüchtige Urenkelin den Wisch zwischen zwei Seiten versteckt, damit Sauerbraten und Klöße nicht gefährdet sind? War ihr die Mitgliederversammlung schnurzpiepe und sie hat sich gesagt: Tu' ich hier rein, findet eh nie wieder jemand?

Meine Lieblingsformulierung steht auf Seite 5: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte.

Der Rest ist Thomas Manns "Der Zauberberg", Aufbau Verlag 1953.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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